22. Dezember

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„Hey Callie", werde ich von Leo begrüßt, der mir die Tür öffnet, nachdem ich geklingelt habe, weil ich meinen Schlüssel vergessen habe.

Erschrocken zucke ich zurück und lehne mich nach hinten, um an die Hausnummer unserer Villa zu schauen. „Habe ich mich im Haus geirrt?", schmunzele ich und schiebe mich unter seinem Arm durch in das warme Innere des Hauses.

„Nein", lacht er und sieht mich mit einem breiten Lächeln an, während er die Haustüre schließt „aber ich habe gerade noch ein letztes Mal mit deiner Mutter geprobt und wollte gerade gehen."

„Achso", sage ich und drehe mich leicht von ihm weg während ich in einer Bewegung meine Trainingstasche auf den Boden fallen lasse, um den Reißverschluss meiner Jacke aufzuziehen, „aber ich gehe davon aus, dass Tante Gab und meine Mom dich sowieso für morgen Abend eingeladen haben, richtig?"

„Richtig", antwortet er, während er sich seine Jacke überzieht und seine Mütze auf den Kopf setzt. „Gut, dann sehen wir uns ja dann morgen."

Ich drehe mich um und werfe die Jacke mit einer Bewegung von mir weg, wohl wissend darüber, dass meine Mutter sehr wahrscheinlich in den nächsten paar Sekunden hier auftauchen wird und möchte, dass ich meine Jacke richtig auf einen Bügel hänge. „Ja, bis morgen dann."

Eigentlich hätte ich ihn auch aufhalten und dazu überreden können, hier zu bleiben, aber nach heute will ich einfach nur eine heiße Dusche nehmen und mit einer entspannenden Maske in mein warmes Bett kriechen.

Leo winkt mir noch kurz zu und dreht sich dann zur Tür um, die er erneut aufzieht, um dann hinaus in die Dunkelheit zu verschwinden.

Ich lasse meine verspannten Schultern kreisen und drücke meine Fingerspitzen gegen meine Nasenwurzel, um den Druck in meinem Kopf ein wenig zu lindern. Keine Ahnung, woher ich diesen Trick habe, aber manchmal hilft er wirklich.

„Callie?", ruft Tante Gab aus der Küche, „komm doch nochmal kurz. Möchtest du nichts essen?"

„Doch", rufe ich halblaut zurück und ziehe meine Füße aus den Winterschuhen, die jetzt schon einen kleinen Wasserfleck auf dem Boden hinterlassen haben. Eigentlich könnte ich jetzt in die Küche gehen und mir einen Lappen holen, aber da ich absolut keine Lust habe den Weg, und seien es nur ein paar Meter, mehrfach zu laufen, wische ich einfach mit meinen dicken Socken über den geschmolzenen Schnee. Zum Glück habe ich die Socken direkt nach dem Training mit Niko angezogen, weil ich vom Schlittschuhlaufen immer so kalte Füße bekomme. Und das Gefühl von eisigen Füßen, wenn man aus dem Auto springt oder gegen etwas stößt, ist das schlimmste überhaupt. Als würden sie im Schuh zersplittern.

Mit meinem Mantel im Arm, den ich jetzt nicht aufhängen möchte und der Einfachheit mit nach oben nehmen werde, und meiner Trainingstasche über der Schulter, gehe ich in die Küche, wo Tante Gab über den Herd gebeugt steht und in einem Topf rührt.

Heute ist sie stylisch in dunkelrot gekleidet und wirft mir einen kurzen Blick zu, bevor sie sich die Hände an der grünen Schürze, die sie über dem wollenen Langarmkleid trägt, abwischt. „Na, wie war das Training?"

„Tatsächlich relativ gut." Die Trainingstasche landet auf der Sitzbank, gefolgt von meiner Tasche. Mit leichtem Muskelkater von der gestrigen unerwarteten Trainingseinheit mit Isa, bei welcher wir uns nicht wirklich aufgewärmt hatten, mache ich ein paar Schritte auf den Kühlschrank zu.

Mit einem braunen Holzlöffel in der Hand dreht sie sich zu mir und verschränkt die Arme. „Relativ?"

Ich öffne den Kühlschrank und stecke meinen Kopf hinein. Was könnte ich jetzt noch essen? Manchmal starrt man in den Kühlschrank und er ist voller Nichts. Fast wie ein Kleiderschrank. „Du kennst mich Tante Gab", ein kleines Lachen verlässt meinen Mund, „ich hätte es gerne perfekt. Und wenn man bedenkt, dass ich zwei Jahre lang keine Kufen mehr unter den Füßen gehabt habe, falle ich schon relativ wenig hin. Und die Hebefiguren funktionieren mittlerweile auch. Hoffen wir, dass es nicht allzu schlimm wird am Heiligen Abend."

„Es wird bestimmt wunderschön. Ich kenne dich und Niko doch. Ihr habt früher schon immer alle begeistert, warum sollte es jetzt anders sein? Wo wir gerade von Niko reden. Er und Leo werden morgen zu uns kommen. Dann können sie uns helfen den Baum zu holen und zu schmücken. Bei den riesigen Bäumen, die deine Mutter immer aussucht, brauchen wir einfach ein paar größere Menschen. Bei dem Ding, was sie letztes Jahr ausgesucht hat, konnten wir nicht einmal den Schlitten benutzen. Wir haben ihn dann zusammen über den Schnee bis nach Hause gezogen."

Während sie vor sich hinredet und ich einfach zustimmende Laute von mir gebe, schiebt sich eine Möhre in mein Blickfeld und ich kneife ein wenig angewidert die Augen zusammen. Ich will jetzt irgendwie keine Möhre essen.

„Oh Callie", sagt Tante Gab und hält mir eine Tüte vom Bäcker neben das Gesicht, „hier, im Kühlschrank ist auch noch der Käse in Tannenbaumform, den ich gekauft habe und wenn du ein paar Gurkenscheiben dazu legst, ist sogar deine Mom zufrieden, wenn sie das sieht."

Dankbar sehe ich sie an und ziehe mit der linken Hand den Käse aus dem obersten Fach, den Tante Gab auch früher schon immer zur Weihnachtszeit gekauft hatte.


-

Mit einer grünlichen Maske im Gesicht, die man über die Nacht einziehen lässt, und einem Weihnachtslied auf den Lippen, schlüpfe ich in meinen gemütlichen Weihnachtspyjama. Das warme Wasser hatte meinem Körper gut getan und die verspannte Muskulatur ziemlich entspannt, auch wenn ich bei dem Anblick mancher blauer Flecken wirklich das Grauen bekommen hatte. Ich war halt nichts mehr gewohnt.

Meine Augen sind schon ziemlich müde und als ich gerade unter meine Bettdecke geschlüpft bin, weil ich eigentlich heute etwas früher schlafen gehen möchte, um morgen gut ausgeruht zu sein, klopft es an meine Tür.

„Herein?", rufe ich und zu meinem Erstaunen ist es meine Mutter, die das Zimmer betritt und sich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen auf die Bettkante sinken lässt.

Ihre Augen blicken mich sanft an und ihre Hand streicht eine kleine Falte auf der Bettdecke glatt. „Alles in Ordnung, mein Schatz? Wir haben uns heute kaum gesehen."

„Ja, bei mir ist alles gut. Ich bin nur ziemlich fertig und muss ein wenig Schlaf nachholen", winke ich ab und ziehe die Ärmel meines Schlafanzuges über meine Hände.

„Ich wollte noch mit dir reden. Mir liegt das schon etwas länger auf dem Herzen", beginnt sie zögerlich faltet ihre Hände im Schoß.

Verwirrt sehe ich sie an. „Uhm, okay."

„Bin ich eine schlechte Mutter?", bricht es aus ihr heraus und ihr Blick ist so traurig und sogar ein wenig herzzerreißend, dass ich mich aufsetze und eine Hand auf ihre Schulter lege. „Ich habe dich zu so vielen Dingen gezwungen und einfach über deinen Kopf hinweg entschieden, obwohl ich genau weiß, dass du deine Angelegenheiten selbst regelst. Das habe ich in den letzten zwei Jahren ja schon zu spüren bekommen."

„Mom", sage ich leise und mir kommen fast die Tränen. „Du bist doch keine schlechte Mutter. Ich weiß, dass das alles für dich auch nicht einfach war, als sich das mit Dad herausgestellt hat und manche Dinge hättest du natürlich ganz anders machen können, aber das macht dich doch nicht zu einer schlechten Mutter. Sieh mich an. Ich lebe noch. Und das habe ich nur Tante Gab und dir zu verdanken."

Ein Lächeln stiehlt sich auf ihr Gesicht und eine kleine Träne rutscht aus ihrem Augenwinkel. „Und ich wollte mich für die Show auch nicht so aufdrängen, es ist nur, dass sich die Gelegenheit bot und alle mich schon fest eingeplant hatten, bevor ich überhaupt zugesagt hatte. Ich weiß ja, dass dein Unfall damals passierte, als ihr auf mein Lied gelaufen seid und es macht mich heute noch fertig, wenn ich es auch nur höre", kurz schluchzt sie auf und drückt meine, auf ihrer Schulter liegende, Hand mit ihrer.

„Es ist in Ordnung, Mom", sage ich tapfer und umarme sie feste.

Nach ein paar Minuten steht sie auf und streicht eine Strähne hinter ihr Ohr. „Gut, ich will dich jetzt auch nicht weiter vom Schlafen abhalten. Träum schön."

Ich lächele ihr aufmunternd zu, doch als sie die Türe hinter sich zu zieht und ich im dunklen Raum alleine da liege und an die kleinen Leuchtschneeflöckchen an meiner Zimmerdecke starre, kann ich das Schluchzen  und auch die heißen Tränen in meinen Augen nicht mehr zurückhalten.



Noch 2 Tage bis Weihnachten. 

Crystal Christmas - Adventskalender 2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt