Brüderkomplexe

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Ilus fragte nach: "Ihr kommt dann alleine klar?". Koi nickte großmütig: "Ja, ja, wir haben alles im Griff". Zu Lucky murmelte Ilus: "Behalte ihn immer im Auge, der müsste noch im Bett liegen". "Krieg ich schon hin", nickte Lucky, "Und nochmal... Vielen Dank". "Das ist absolut verständlich", winkte Ilus ab und ließ sie gehen. Shota saß auf einem Sessel mit verschränkten Armen und sah zu, wie sein kleiner Bruder ging. Henry stieß ihn an: "Drei Wochen, das wirst du doch wohl aushalten". Er rollte mit den Augen: "Pft, sei ruhig. Du bist ein Einzelkind". Ilus stimmte Henry zu: "Ihr wart schon mal länger voneinander separiert". "Du sollst auch ruhig sein, du bist nämlich der Jüngere!", fuhr er ihn genau so an. "Ja, und mein Bruder fliegt selbst immer wieder gerne zurück nach Russland", mit dem Argument gab Shota wenigstens Ruhe.

Nach einer kurzen Bedenkpause wand sich Henry an Dexter: "Was treibt dein Bruder eigentlich mittlerweile?". "Ach, keine Ahnung", zeigte er sich ziemlich kalt. Ilus machte große Augen und drehte sich rasch um: "Hä?". Henry nahm an: "Also kam er nie zurück?". "Nein und es ist mir auch ziemlich egal. Soll er doch mit seinen abtrünnigen Kumpels in einer Ecke weiterhin eine Enttäuschung für unsere Eltern sein. Zu retten ist der schon seit Ewigkeiten nicht mehr", zischte er. Ilus konnte sich nur wiederholen: "Hä?!". Kurz erklärte Henry: "Dexter hat auch einen älteren Bruder, aber er rebellierte schon sehr früh gegen die gesamte Familie und machte sein eigenes Ding. Da gingen Dexter und ich noch in die zweite Klasse". Von der schlechten Laune kam Dexter schnell weg: "Das ist Vergangenheit. Niemand redet noch über ihn. Seit der dritten Klasse hat auch niemand etwas über ihn-". Ilus unterbrach lautstark: "Wir werden ihn ausfündig machen und konfrontieren!". Dexters Blick sank ein: "Och bitte nicht...". Auch Henry riet ab: "Ja, das sollten wir einfach mal nicht tun". Schmollend dachte Ilus nach.

Zehn Stunden später und 7.300 Kilometer über dem nordischen Atlantik fuhr Koi einen Leihwagen mit einem halbtoten Lucky auf dem Beifahrersitz: "Wie kannst du noch wach sein...?". Koi lächelte: "Ich kann schlafen, wann und wo ich will. Das weißt du". "Aber das waren neun Stunden Flug...", nuschelte er vor sich hin. "Dann schlaf du noch eine Runde. Ist ja genug Zeit von einer Küste zur anderen", noch bevor er zu Ende sprach, war Lucky weg gecrasht. Eigentlich wollte Koi ihn bis zum Ende der Route schlafen lassen, doch stupste er ihn etwas an, als sie an einem langen Straßenstück nur an der Küste entlang fuhren. "Fühlst du dich bei dieser schönen Aussicht nicht direkt wieder wie Zuhause?", fragte Koi nach. Lucky schmunzelte müde: "Warte, bis du Glencolumbkille siehst...". Nach weiteren Meilen voller endloser Graslandschaften und Seen fuhren sie zum späten Nachmittag in dem Küstendorf an.

Koi war etwas verwundert: "Und hier wohnen tatsächlich Menschen? Sieht alles sehr leer aus". Lucky verpasste zu antworten und sah sich nur ruhig mit einem unschuldigen Lächeln um. Auf einmal ging das Navi aus, worüber Koi als Fahrer nicht ganz glücklich war: "Na toll...". Er musste am Rand der nicht allzu großen Straße halten und versuchte anhand einer einzelnen Broschüre ihr Hotel zu finden. Ein etwas älterer Einwohner spazierte vorbei, diesen winkte Koi sich rüber: "Entschuldigen Sie, könnten Sie uns helfen?". Der Mann kam rüber und Koi fragte: "Wissen Sie, wo es zu diesem Hotel geht?". Der Mann antwortete, doch Koi verstand kein Wort. Da er aber nicht unfreundlich sein wollte, bedankte er sich und fuhr langsam weiter. Lucky verzog den Blick: "Wo fährst du lang? Du solltest nach rechts abbiegen". "Du hast den verstanden? Der hatte wohl ein bisschen zu viel Whiskey", lachte er und versuchte zu drehen. Ganz unerwartet antwortete Lucky genau so schwammig. Nachdem Koi ihn schief anguckte, grinste Lucky: "Willkommen in einem Dorf von County Donegal".

In Seattle ging für die anderen der Dienst zu Ende und die ersten schliefen schon. Auch Shota legte sich gerade gähnend auf Kois Sofa. Wenn er schon zurück gelassen wurde, dann nahm er die bequemere Gelegenheit zum Schlafen ein. Doch dafür wurde er von seinem Bruder auch angerufen: "Ja...?". Koi hörte sich verzweifelt an: "Ich verstehe hier nichts! Die hören sich fast alle an wie ich nach einer langen Nacht in einer Bar! Und Lucky macht da auch noch mit!". "Denkst du wirklich, ich kann dir da jetzt helfen? Ich bin genau so ein Japaner mit Amerikanisch-Englisch-Kenntnissen wie du", fragte Shota müde. Koi hörte im nächsten Moment, wie sein älterer Bruder vor Schmerzen auf jammerte: "Aua! Ilus, was tust du da?!". "Das ist nicht dein Platz, also brauche ich mich nicht zu rechtfertigen", blieb er einfach auf seinen Beinen sitzen. Shota konterte: "Vielleicht solltest du dich rechtfertigen, weshalb du an Yasuos Laptop gehst". Man hörte den Aufschrei von Koi auch ohne die Lautsprecher Funktion: "Was?! Verschwinde von meinem Laptop!". "Ich tu deinem Heiligtum nichts an, missbrauche nur dessen Funktionen", murrte Ilus.

Lucky war eben noch an der Rezeption und kam daher unwissend darüber, weshalb Koi auf einmal wütend war, ins Zimmer rein. Somit ritt Lucky sich selbst in eine riesige Gefahrenzone: "Da ist jemand grantig". Koi fuhr ihn an: "Da sollte jemand die Schnauze halten!". Er hob überrascht die Hände: "Als ich gesagt habe, dass noch etwas Toffee an deinem Zahn klebte, meinte ich das nicht böse". Ilus maulte dazwischen: "Fünf Minuten, dann bin ich auch schon wieder weg von dem Teil. Drei Minuten, wenn du mir diese Suchfunktion nochmal erklärst". Koi schnaufte schwer: "Das Programm ist im Ordner oben rechts auf dem Desktop". "Da sind zwei - Hentai und Sutōkā, welcher ist der Richtige?", fragte Ilus nach. Koi machte große Augen und murmelte für sich selbst: "Den hab ich doch gelöscht...". Ilus hörte nichts: "Noch da?". "Äh, ja! Gehe auf keinen Fall auf Hentai! Ansonsten... äh... du könntest nen Virus auslösen oder so", redete er sich raus. Ahnungslos ging Ilus auf den anderen Ordner und kam von dort alleine zurecht: "In Ordnung, danke dir". Shota starrte urteilend seinen Handybildschirm an und Lucky verkniff sich einen Lachanfall.

Koi legte rasch auf und räusperte sich. Dann hatte er sich auch noch vor Lucky zu rechtfertigen: "Den habe ich mir mit vierzehn zugelegt und eigentlich gelöscht! Durch irgendein Backup muss der zurück gekommen sein!". Lucky biss sich krampfhaft auf die Faust und nickte sarkastisch. Schmollend fragte Koi: "Wollen wir dann deine Familie besuchen gehen?". Da hörte der Spaß ganz rasch auf und Lucky zögerte umher: "Vielleicht... morgen? Ich bin nicht so ausgeschlafen. Kennst mich ja, könnte ungemütlich werden". "Kneif mir jetzt nicht", warnte Koi. "Tu ich gar nicht, ich schiebe es nur zu einem Punkt zurück, wo man mich nicht noch mehr hassen würde! Lass uns einfach... spazieren gehen...", murmelte er. Weil er sich sichtbar unwohl fühlte, stimmte Koi zu und sie wanderten durch die hohen Gräser und die dezent zerklüftete Landschaft.

Der Wind wehte an so einer Küste sehr stark. Lucky hatte mit seinem ordentlichen Undercut keine Probleme, wobei Koi mit seinen Haaren bis zum Nacken etwas am kämpfen war. Zusätzlich flatterte seine dünne Jacke die gesamte Zeit. Dass Lucky auch nicht kalt war, wunderte den frierenden Koi. Schließlich sollte es ja eigentlich Sommer sein. Plötzlich rannte Lucky wild los, einen großen Hügel hinauf. Oben angekommen sah er über das Meer der goldenen Nachmittagssonne entgegen und er lächelte. Unsportlich und keuchend kam Koi ihm nach: "Alter... Musste das sein...?". Nachdem Lucky nicht auf ihn reagierte und er sich sein Gesicht genauer ansah, realisierte er etwas. Er rüttelte etwas an Luckys Schulter, um seine Aufmerksamkeit wieder zu erlangen: "Kann es sein, dass du als Kind öfters hier warst? Deine Augen strahlen wie die eines Neunjährigen". Als Luckys Lächeln wieder verschwand, war Koi sich sicher: "Du hast Angst, nicht zurück kehren zu wollen, wenn du von deiner Familie wieder akzeptiert wirst, oder?".

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