Kapitel 1

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Pov Yamaguchi

Kei Tsukishima. So hieß er. Mein bester Freund und doch die Person, die mich mehr verletzte als jeder andere. Er tat es unbewusst und ich machte ihm keinen Vorwurf, aber es schmerzte so unfassbar.
Alles hatte begonnen als sie neu in unsere Klasse wechselte. Sie war ein zierliches, kleines, blondes und so verdammt hübsches Mädchen. Sie hatte sogar kleine, niedliche Sommersprossen und Grübchen, wenn sie ihr hohes, schönes Lachen lachte.
Ich hasste sie nicht. Man konnte sie gar nicht hassen. Sie war so lieb und so unglaublich süß, dass ich es niemandem verübeln konnte, sie gern zu haben.
Aber ich wünschte trotzdem sie hätte nie die Schule gewechselt. Sie hatte mein Leben schlagartig verändert, und das sicherlich nicht zum Guten.

Tsukki und ich waren schon beste Freunde seit wir klein waren. Er hatte mich mal vor ein paar nervigen Schlägertypen gerettet, seitdem war ich ihm sozusagen nicht mehr von der Seite gewichen und wir waren die besten Freunde geworden.
Nur leider konnte es ja nicht dabei bleiben. Mein dummes Herz hatte entschieden sich in ihn zu verlieben. Und ich hatte nichts dagegen tun können. Ich habe niemandem davon erzählt und gehofft, dass dieses Gefühl einfach wieder verschwindet. Aber dem war nicht so. Stattdessen war sie gekommen.

Ich stand auf und streckte mich. Ein weiterer Tag des stillen Leidens hatte begonnen. Ich lächelte. Seit wann war ich denn so möchtegern poetisch?
Mein Lächeln verging mir aber wieder schnell als ich mir ins Gedächtnis rief, wie der Tag heute aussehen würde. Er würde wie jeder andere Tag verlaufen und das schmerzte mehr als alles andere.

Ich schleppte mich mühsam in die Küche. In letzter Zeit schlief ich immer schlechter und meine Energie ging gegen Null.
"Guten morgen!" rief mir meine Mutter aus dem Flur zu. "Ich muss jetzt leider schon los, aber dein Frühstück steht auf dem Tisch. Viel Spaß in der Schule!" Und schon war sie durch die Tür.
Seit mein Vater mit einer anderen Frau abgehauen war, lebten meine Mum und ich allein in diesem Haus. Damals hatte sie eine schwere Zeit durchgemacht und ich hatte ihr versucht so gut es ging zu helfen, aber ich fühlte mich verdammt schuldig.

Es war ein Abend gewesen, an dem mein Vater mal wieder betrunken von der Arbeit kam. Wenn er getrunken hatte wollte man lieber nicht im Weg stehen, sonst konnte er sehr ungemütlich werden. Gelegentlich hatte ich das auch durch ein paar Ohrfeigen oder Tritte zu spüren bekommen, aber wenn ich mich früh genug in meinem Zimmer einschloss passierte meist nichts.
Diesen Abend kam er also nach Hause, ich war gerade unter der Dusche und hörte den Schlüssel im Schloss. Schnell zog ich mir meine Sachen über. Währenddessen hörte ich schwere Schritte in die Küche stapfen und als ich endlich fertig war und schnell in mein Zimmer huschen wollte hörte ich seine Stimme. Sie war tief und rau und er sprach gepresst, als würde er seine Wut unterdrücken.
Und dann sprach er es aus: "Ich kann nicht hier bleiben. Ich kann und will so nicht leben. Du weißt selbst, dass Tadashi nicht gewollt war und der Umstand, dass er einfach so in unsere Welt kam hat alles zerstört. Wir waren doch so glücklich, aber für ein Kind war ich eigentlich noch nie bereit. Ich weiß nicht einmal selbst, wie ich die verdammten letzten Jahre aus gehalten habe, aber es reicht mir. Ich liebe dich schon lange nicht mehr. Auf der Geschäftsreise letztes Jahr habe ich Mary kennengelernt und ich habe mich neu verliebt. Ich könnte sagen, dass es mir Leid tut, aber es würde nichts ändern. Ich werde noch diesen Abend verschwinden."
Eine lange Stille trat ein. Ich sank an der Wand zu Boden und blieb zitternd dort sitzen. Mir war egal, ob er gleich die Treppe hoch kommen und mich so vorfinden würde. Ich wollte nur noch weg, aber ich konnte mich nicht mehr bewegen. Kein Muskel rührte sich, nur zittern konnten sie. Tränen liefen leise über mein Gesicht. Ich wusste nicht wann sie angefangen hatten zu fließen und eigentlich war mir auch schon immer klar gewesen, dass dieser Tag kommen würde, aber doch noch nicht heute. Er war viel zu früh gekommen und ich hatte ihn nicht erwartet.
Nach einer gefühlt endlosen Pause hörte ich meine Mutter leise flüstern: "Raus!" Es war das einzige was sie sagte, aber in diesem Wort lag so viel Verachtung, Hass und Traurigkeit, dass es mich wieder zur Besinnung brachte. Ich kam auf die Beine, stolperte die Treppe runter und riss die Tür auf. Ich rannte einfach los. Ohne Ziel, bloß weg.

Das nächste Jahr nach diesem Abend war die Hölle für meine Mum. Sie weinte beinahe jeden Abend, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollte und trank immer häufiger selbst.
Ich wollte sie trösten, wollte ihr helfen, dabei war ich doch der Grund, warum es ihr so schlecht ging. So gut es ging unterstütze ich sie bei allem, bei dem ich helfen konnte. Nach diesem schrecklichen Jahr wurde es langsam besser. Sie hatte sich mit meiner Hilfe aus dem Loch gekämpft und auch, wenn sie ab und zu noch trank, hatte sie ihr Leben wieder einigermaßen unter Kontrolle. Sie hatte eine neue Arbeitsstelle gefunden, neue Kontakte geknüpft und wollte wieder wie eine gute Mutter für mich da sein. Ich liebte sie dafür.
Mir hatte vor allem Tsukki in dieser Zeit geholfen. Er wusste es nicht, aber durch seine Anwesenheit und seine ruhige Art konnte ich in seiner Nähe entspannen und die nötige Kraft tanken, um für meine Mutter da zu sein.

Und dann waren wir auf die Oberschule gekommen und dem Volleyballclub beigetreten. Das erste Mal hatte ich das Gefühl noch weitere Freunde und fast schon eine Familie gefunden zu haben. Doch nach diesem ersten halben Jahr war sie aufgetaucht und hatte mich zurück in die Dunkelheit geschubst, aus der ich doch gerade erst entkommen war.

Niemand wusste von der Situation bei mir zu Hause und meinen endlosen Schuldgefühlen, die ich seit diesem Abend mit mir herum trug. Nicht einmal Tsukki und ich wollte, dass dies so blieb. Ich wollte ihm keine Last sein, auch wenn sich das bei meinem nicht vorhandenen Talent wohl nicht vermeiden ließ.

Ich fand mein Frühstück, wie von Mum erwähnt, auf dem Tisch stehen. Ich aß in letzter Zeit nicht viel, aber trotzdem packte ich meine Box jeden Tag in meine Schultasche. Ich gab das Essen einfach immer einem meiner Mitschüler, der hatte selbst keins dabei und freute sich darüber. Natürlich so, dass Tsukki es nicht mit bekam. Ich wollte nicht, dass er irgendwelche Fragen stellte, aber in letzter Zeit achtete er sowieso nicht mehr auf mich. Wegen ihr.

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