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POV (Y/N):

Als ich denke, das mich die Schwarzhaarige nicht mehr sieht fange ich an zu rennen. Ich renne weg. Ich renne vor ihr weg. Ich renne vor den schmerzen davon. Ich renne vor den Bildern davon, welche sich vor ein paar Minuten wieder in meinen Kopf geschoben haben. Ich renne vor der plötzlich aufgetauchten Nähe weg. Ich renne und renne. Immer und immer wieder. Immer und immer schneller.

Mit rasendem Herzen und völlig außer Atem komme ich vor meinem Haus zu stehen. Ich laufe zur Tür und schließe sie auf. Als ich das Haus betreten möchte fällt mein Blick direkt auf das Familienbild an der Wand. Ich erstarre. Nicht schon wieder! Mir bleibt der Atem weg und mir rollen die stummen Tränen über die Wangen. Langsam fängt sich alles um mich herum an zu drehen und ich stolpere wieder Rückwerts aus der Tür heraus. Mein Blick ist immer noch auf das Bild fixiert während ich weiter Rückwärts laufe. Das Bild entfernt sich immer weiter von mir, doch es ist das einzige, was ich wahrnehme.

Ich bleibe erst stehen, als ich das Geländer hinter mir bemerke, welches mich davon abhält den Abhang auf der gegenüberliegenden Straßenseite herabzustürzen. Es hat mich nicht nur vor dem Absturz abgehalten, sondern mich auch wieder zurück in die Realität geholt. Zumindest teilweise. Ich blinzle ein paar mal. Das Bild kann ich schon lang nicht mehr erkennen, doch ich kenne es gut genug um es vor Augen haben zu können.

Bei dem Gedanken an das Bild kommen mir wieder die Tränen, welche mit dem Rückwärtslaufen aufgehört haben. Ich fange an zu schluchzen, als ich meinen Bruder vor mir liegen sehe. Er ist bereits Tot. Doch das hält mich nicht davon ab mit langsamen Schritten und leicht taumelnd zu ihm zu gehen. Ich strecke die Hand nach ihm aus und sehe dabei das Blut, welches an meinen Händen klebt.

Ich habe ihn umgebracht. Er ist nur wegen mir gestorben. Er sollte jetzt hier sein und nicht ich. Ich verdiene es nicht zu leben. Er schon. Er ist ein viel besserer Mensch als ich. Ich bin ein kaltes Monster.

Plötzlich nehme ich Scheinwerfer und ein lautes Hupen von rechts wahr. Ich schaue zur Seite und sehe dabei im Augenwinkel wie mein Bruder verschwindet. Als ich realisiere, dass das Auto auf mich zu fährt zögere ich kurz ob ich auf die Seite gehen soll. Für einen kurzen Moment denke ich, es wäre besser bei ihnen zu sein, wo auch immer sie sind.

Doch dann übernimmt mein Überlebenswille und ich laufe schnell zur Seite. Als das Auto vorbeigefahren ist lasse ich mich langsam an dem Geländer zu Boden sinken. Dort ich ziehe die Knie an, umklammere meine Beine mit meinen Armen und lege den Kopf auf meine Knie. So zusammengekauert sitze ich am Straßenrand und versuche aufzuhören zu weinen. Doch vergeblich. Ich schluchze gegen meine Knie und würde am liebsten nie wieder aufstehen.

Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, doch meine Tränen sind weniger geworden und langsam fange ich an mich zu regen. Ich stehe auf und drehe mich mit dem Rücken zu meinem zu Hause und der Straße. Meine Hände klammern sich um das Geländer und mein Blick schweift langsam über die Aussicht. Ich sehe meine Schule von hier aus. Sie sieht so ruhig und verlassen aus. So anders.

Ich merke, wie mir kalt wird und beschließe rein zu gehen, doch als ich mich umdrehe steht auf der anderen Straßenseite eine alte Dame. Da meine Instinkte mir sagen zu dieser Frau nett zu sein, lächle ich sie schmerzhaft an, um dann ein "Guten Abend!" zu sagen. Meine Stimme ist rau, doch davon scheint sie wenig überrascht zu sein, denn sie lächelt mich ebenfalls an, sagt ebenfalls "Guten Abend!" und zeigt keinerlei Reaktion auf meine unpassende Stimmlage.

Ich will an ihr vorbei gehen, da sagt sie ruhig "Entschuldige, aber wohnst du hier ganz allein?" Ich nicke daraufhin nur kurz und schlucke die Tränen runter, welche mir auf diese Frage immer hoch kommen. Ein Moment vergeht, bis ich der Frau in die Augen sehe. Sie hat strahlend, grüne Augen und lange weiße Locken. Sie sieht weiße aus, wenn man das so sagen kann. Wie ein Menschen, welcher einem um jeden Preis helfen will, welchem man alles anvertrauen kann und welcher einem auch immer einen guten Rat geben kann.

Sie kommt ein paar Schritte auf mich zu, sodass wir uns nun gegenüber stehen, zwischen uns eine kleine Hecke, welche den hässlichen Zaun verstecken soll. Die Frau fängt wieder an zu reden. Doch was sie sagt gefällt mir nicht "Es tut mir leid, wenn das jetzt unangemessen klingt oder so, doch ich habe schon öfter gesehen wie du weinst oder vollkommen außer dir bist. Ich wollte mich nicht einmischen, doch dann hab ich gerade das mit dem Auto gesehen und gemerkt, wie du gezögert hast und-" an der stelle unterbreche ich sie "Sie haben bitte was? Das geht sie ja mal absolut nichts an! Woher nehmen sie sich überhaupt das Recht so etwas zu tun?" Die Frau schaut mir in die Augen und sieht dabei so ehrlich aus, das ich nicht wirklich empört sein kann, auch wenn ich es sein sollte. Es ist einfach ihre Ausstrahlungen. "Es tut mir leid. Aber ich habe das schon mal bei meinem Bruder gesehen, als er aus dem Krieg zurück kam. Ich weiß nicht, was dir passiert ist, doch ich weiß, das du leidest. Ich würde dir gerne helfen." Ich spüre, wie mir die Tränen hoch kommen, doch ich bin immer noch wütend. Deshalb sag ich mit etwas schärferem Ton und Tränen in den Augen "Ich war aber in keinem Krieg. Ich bin auch nicht ihr Bruder. Also bitte sagen sie mir, wie sie mir helfen wollen?" "Wie wäre es, wenn du erstmal auf ein Essen rein kommst und wir reden? Wenn es dir gut gehen würde, würdest du anders aussehen."

Ich bin am überlegene mich einfach umzudrehen und zu gehen, doch dann mischt sich mein leerer Magen ein. Ich kenne die Frau nicht, aber ein kostenloses Essen lasse ich mir nur selten entgehen. Was hab ich denn schon zu verlieren? Also gehe ich stumm zur Tür und spüre schon ihren enttäuschten Blick im Rücken, welcher sich schlagartig in einen freudigen ändert, als ich die Tür schließe, den Schlüssel abziehe und auf die andere Seite des Zauns laufe. Sie sieht mich lächelnd an und geht voran in ihr Haus.

Drinnen fängt sie an zu reden und ich höre ihr nur mit halbem Ohr zu, da ich damit beschäftigt bin mich umzusehen. Die altmodische Einrichtung besteht zu Großteil aus Holz. Generell sieht alles sehr gemütlich aus, doch als ich ihren Wohnbereich betrete, bleibt mein Blick an einer Bilderwand über dem Sofa hängen. Dort hängen an die 100 Bilder, welche alle zwei großes Familien Portraits rumrahmen. Eins, wie es jeder kennt, auf welchem ich die alte Dame in ungefähr dem gleichen Alter mit zahlreichen Enkeln und anderen Verwandten sehe und ein altes Bild. Es ist eins von diesen schwarz-weiß Bildern, welche meine Eltern auch von ihren Eltern hatten. Erkennen kann ich darauf niemanden.

Einige Zeit später haben wir zusammen gegessen und uns etwas kennen gelernt. Sie heißt Hina, lebt alleine, seit ihr Mann vor 10 Jahren gestorben ist und ist jetzt 75. Sie sieht zwar jünger aus, aber das macht nach einiger Aussage das Familienleben. Sie muss wohl regelmäßig auf ihre Enkel aufpassen, was sie natürlich gerne macht und hält ihr Haus und den Garten selbstständig in Schuss. Sie hat mir angeboten, dass ich jederzeit zu ihr kommen kann wenn ich etwas brauche, da sie so gut wie immer zu Hause ist. Sie erzählt mir gerade, dass sie früher als Krankenschwester gearbeitet hat, dann aber so früh wie möglich die Rente angetreten hat, um für die Familie da zu sein.

Sie redet abgesehen von ein paar Zwischenfrage wie "Willst du noch etwas zu trinken?" oder "Sollen wir uns ins Wohnzimmer setzten?", auf welche ich antworten muss, die ganze Zeit über sich und gibt mir so das Gefühl hier willkommen zu sein und einfach ich sein zu können. Vielleicht werde ich ihr mal erzählen was passiert ist. Doch nicht jetzt. Ich brauche noch Zeit und diese gibt sie mir.

The other side - Kiyoko X Reader Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt