Ein neues Leben

86 20 20
                                    

Palma, ein junges Mädchen von gerade einmal elf Jahren, stand inmitten einer ihm fremden Stadt vor einem riesigen Gebäude und starrte ängstlich auf dessen Eingang. „Es war mir wirklich eine Freude, dich bis zu deinem Abschluss der Trainerausbildung begleiten zu dürfen.", vernahm sie neben sich die Stimme eines jungen Mannes. Er war über Monate hinweg immer ihr Ansprechpartner gewesen, doch fand sie in diesem Moment nicht die Kraft, ihn anzuschauen. „Ich wünsche dir viel Erfolg. Vielleicht treffen wir uns ja irgendwann mal wieder." Das Mädchen mit smaragdgrünen Augen und langem glatten blonden Haar hörte, wie ihr Betreuer schluchzte und dann schnellen Schrittes verschwand. Nun war er nicht mehr ihr Betreuer. Nun war sie allein. Ganz allein. Getrennt von ihrer leiblichen Familie. Und auch getrennt von den Leuten in der Trainingseinrichtung für herangehende Trainer. Die Lehrer, die Betreuer und auch die anderen Kinder dort waren ihre Freunde gewesen. Nein, viel mehr ihre zweite Familie. Und nun waren sie fort, sie würde sie alle wahrscheinlich nie mehr sehen. Palma versuchte, sich zusammenzureißen. Doch hörte sie überall um sich herum Schritte und Gespräche. Dieser Stadtlärm sorgte dafür, dass sie sich noch einsamer, noch hilfloser, noch verlassender fühlte.

Ihre Sicht verschwamm und sie musste allen Mut zusammennehmen, um nicht einfach davonzulaufen. Stattdessen trat sie vor die Eingangstür des Gebäudes vor sich, deren Schiebetürhälften sich mit einem leisen Zischen öffneten. Das Mädchen atmete ein paar Male tief durch, bevor es eintrat. Der Eingangsbereich wirkte sehr modern, doch trotz vieler Vitrinen kühl. Der Boden war weiß. Die Wände waren weiß. Die Decke war weiß. Alles war weiß. Sogar der Empfangstresen, der sich in der Mitte der Halle befand, war weiß. Palma war noch nicht bereit, dorthin zu gehen. Noch nicht. Zunächst wanderte sie zwischen den Vitrinen umher, deren Inhalte es nicht in Palmas Bewusstsein schafften. Sie war viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. War sie gut genug? War sie stark genug? Würde sie ihr Pokémon mögen? Würde ihr Pokémon sie mögen?

Nachdem ihre Tränen endlich getrocknet waren, begab sie sich zum Empfang. Dort saß eine Frau an einem Rechner. „Einen Moment bitte.", sagte sie mit warmer Stimme. Palma nutzte die Zeit und musterte die Frau. Sie bildete mit ihrer hellbraunen Haut und den rabenschwarzen, lockigen Haaren einen angenehmen Kontrast zum Rest der Halle. Das blonde Mädchen schätzte sie auf Anfang 30. Das Gesicht der Empfangsdame hatte weiche Züge. Auf ihren Lippen war dunkelroter Lippenstift aufgetragen und unter ihrem rechten Auge befand sich eine kleine Narbe. Schließlich richtete die Frau ihren Blick auf Palma. „Herzlich willkommen im Pokémonlabor von Alabastia. Du bist hier, um dein erstes Pokémon zu erhalten, richtig?", sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. „Dann bräuchte ich bitte einmal deine Unterlagen." Palma reichte ihr die Papiere, die ihr Betreuer ihr gegeben hatte und kaute nervös auf ihrer Lippe herum, während die Empfangsdame Palmas Daten eingab. „Ah, Palma. Wir haben bereits alles für dich vorbereitet. Wenn du mir bitte folgen würdest." Die dunkelhäutige Frau war auf dem Weg zu einer Tür, als sie feststellte, dass Palma ihr gar nicht folgte. Sie ging zu dem Mädchen und hielt ihm ihre Hand hin. Die Elfjährige griff sofort nach der Hand und fühlte sich zum ersten Mal in dieser fremden Stadt nicht verlassen.

Die beiden gingen durch lange weiße Flure mit kahlen Wänden. Die Türen waren alle geschlossen und in dem Gebäude war es beängstigend still. So still, dass sich keine von den beiden traute, diese Stille zu zerreißen. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieben sie vor einer großen grauen Tür stehen. Die Empfangsdate betätigte einen Knopf, woraufhin sich die Tür öffnete. Sie ließ Palmas Hand los und schob das Mädchen sanft durch die Tür. Palma befand sich nun in einem kleinen Raum mit Regalen voller kleiner roter Geräte und roter Pokébälle. „Willkommen, Palma. Ich bin Dr. Ginster, einer der Assistenten des Professors. Er ist auf einer Dienstreise und kann dir dein Pokémon leider nicht selbst geben.", begann ein älterer Herr mit grauem Haar und monotoner Stimme. Palma schien es, als sei er selbst ein wenig nervös. Er nahm eines der Geräte, verband es kurz mit einem Rechner und reichte es Palma nach wenigen Minuten. „Dies ist ein Pokédex. Dein Pokédex. Ein Gerät, das es uns Menschen ermöglicht, mit den Pokémon zu kommunizieren. Er überwacht deine Pokémon, sagt dir, auf welche Befehle sie hören und wie ihr aktueller Status ist. Falls etwas unklar ist... der Pokédex enthält ein sehr umfangreiches Hilfemenü. Nutz es ruhig." Palmas Herz schlug schneller. Dr. Ginster erklärte ihr noch einmal kurz im Detail, was der Pokédex alles konnte, Palma hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu. Sie bekam Angst; sie wusste, was nun kommen würde. Ihr bisheriges Leben war nun vorbei und sie war sich nicht mehr sicher, ob sie dies alles wirklich konnte und wollte. Ihre Augen wurden wieder feucht. Der Mann reichte ihr einen Pokéball. „Dies ist dein erstes Pokémon...", begann er. Doch weiter hörte Palma ihm nicht zu. Ihr kullerte die erste Träne über die Wange. Dann die Zweite. Schließlich wurden es immer mehr, bis aus den einzelnen Tropfen ein ganzer Bach wurde.

Im nächsten Moment stand Palma wieder am Empfang. Die Empfangsdame trocknete ihr die Wangen ab und reichte ihr ein Glas Wasser. Palma konnte sich nicht erinnern, wieder zurück zum Empfang gegangen zu sein. Die letzten Minuten waren wie ausgelöscht. Dankbar ließ sie sich auf einen kleinen Hocker fallen, der ihr angeboten worden war. „Es ist normal, dass du Angst hast.", sagte die Empfangsdame beruhigend. „Aber du wirkst stark, hab Vertrauen in dich." Sie schaute noch einmal über Palmas Unterlagen und las vor: „Palma ist manchmal etwas unsicher, jedoch sehr wissbegierig, fleißig und belastbar. Eine der besten Traineranwärterinnen, die wir seit langer Zeit ausbilden durften." Die Empfangsdame legte eine kurze Pause ein, um die Worte wirken zu lassen. „Ich glaube an dich.", lächelte sie. Sie griff in eine Schublade und holte eine kleine Karte hervor. „Das ist dein Trainerpass, verlier ihn nicht. Er enthält alle Informationen über dich. Auch, wann du gegen wen einen Pokémonkampf bestritten hast. Zudem fungiert er als Geldkarte; es befindet sich ein Startguthaben über 3000 Pokédollar darauf." Sie reichte die Karte dem blonden Mädchen. „Nun bist du offiziell eine anerkannte Trainerin der Pokémonliga."

Die beiden plauderten noch eine Weile. Die Empfangsdame erzählte ihr ein wenig was über das Pokémonlabor. In ihm fanden viele Grundlagenforschungen zu den Pokémon der Kantoregion statt. Auch wenn es häufig schien, als wisse man bereits alles über Pokémon, so war eher das Gegenteil der Fall. Laut der Empfangsdame arbeitete der Professor gerade daran, den natürlichen Lebensraum von Schiggy, einem beliebten Wasserpokémon, zu erforschen. Außerhalb der Gefangenschaft wurde es bisher kaum beobachtet.

Als sich Palma wieder ganz beruhigt hatte,verabschiedeten sich die beiden. Palma hatte die Empfangsdame ins Herzgeschlossen und war traurig darüber, sich von ihr verabschieden zu müssen. „Fallsdu ein Problem hast, zögere nicht, hier anzurufen. Mein Name ist übrigens ClaraTann."

Der lange Weg zum RuhmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt