chapter 37

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Die Glocke der kleinen Kapelle erfüllte die stickige Luft. Andreas und ich standen gemeinsam vor der bereits gefüllten Kapelle und schwiegen. Dieser Tag hätte nie kommen dürfen, nie hätten wir ihn so leicht verlieren dürfen. Ich lehnte mich an Andreas Brust und schloss die Augen. Die letzten Tage waren geprägt von Schlaflosigkeit, Trauer und Wut. Andreas wich mir nicht von der Seite, half mir bei sämtlichen auftretenden Panikattacken und der Angst für immer allein zu sein.

"Wollen wir langsam rein?", flüsterte er und strich mir sanft durchs Haar. Ich nickte leicht und hauchte: "Ich will ihn nicht gehen lassen.". Er schwieg daraufhin und legte den Arm um meine Schultern. "Das wollte niemand Kleines.". Wir schritten gemeinsam durch die Kapelle und nahmen vorne neben Hedi und Steffi Platz. Kurz sah ich mich etwas um. Familie, Freunde und Bekannte saßen hier mit uns, um Abschied zu nehmen.

Während der gesamten Trauerfeier konnte ich meinen Blick nicht von seinem Sarg lösen. Meine Aufmerksamkeit galt nur ihm. Ich konnte sein Lachen hören, sein Lächeln sehen und seine Arme um meine Hüfte spüren. Ich dachte an unser Kennenlernen damals in der Schule zurück, dachte an all die gemeinsamen Nächte im Freien und die Dummheiten, die wir als Jugendliche gemacht hatten. Ich ging unsere gemeinsame Zeit in Gedanken durch, alles was wir erlebt hatten und was wir noch machen wollten.

"Liv?". Andreas tippte sanft an meine Schulter. "Es geht los hm", er stand auf, ebenso wie es die meisten Trauergäste schon taten. Sanft zog er mich auf die Beine und legte seinen Arm um mich. Chris älterer Bruder gab es nicht zu, aber er war ebenso gebrochen. Er wollte stark sein für seine Mom, Steffi, Silvia und mich. Doch auch er hatte schwache Momente in denen er eine starke Schulter brauchte, die ich ihm in der letzten Zeit versucht hatte zu geben. Auch jetzt sah ich ihm an, wie sehr er litt. Auch er wollte ihn nicht loslassen.

"Gebt uns eine Minute", nuschelte ich zu Steffi, die nickte und mit Hedi schon die Kapelle verließ. Ohne weitere Worte nahm ich Andreas in den Arm und strich über seinen Rücken. "Es tut mir so leid", hauchte er schluchzend. Sein Körper bebte, er weinte und sah mich verzweifelt an. "Ich konnte nichts für ihn tun, ich hab ihn einfach alleine gelassen.". Ich schüttelte leicht den Kopf. "Andreas, nicht. Es ist nicht deine Schuld.". Er nickte und strich sich durchs Haar. "Ich hätte besser aufpassen müssen Liv.". Ich drückte ihn sanft an mich. "Er passt jetzt auf uns auf Andy, zusammen mit eurem Papa", flüsterte ich.

Langsam folgten wir der Trauergemeinde über den Friedhof. Wir versammelten uns stumm um das Grab, Andreas und ich etwas abseits und beobachteten, wie sein Sarg langsam abgelegt wurde. Ich konnte den Blick nicht lösen, wäre am liebsten hingerannt und hätte sie aufgehalten. Andreas ließ meine Hand jedoch nicht los, hielt mich an sich und flüsterte beruhigend auf mich ein. Zögernd wurde sich von Chris verabschiedet, jeder legte eine einzelne Blume mit ins Grab und sprach ein paar Zeilen. Hedi sprach lange zu ihrem Sohn. Sie schien zerbrechlich, der Glanz hatte ihre Augen restlos verlassen.

Zuletzt traten Andreas und ich an das Grab. Stumm betrachtete ich den Grabstein, welchen wir gemeinsam ausgesucht hatten. Christian Reinelt. Noch immer schien es mir surreal, ich konnte es nicht wahrhaben und doch stand sein Name dort. Viel zu früh, viel zu sinnlos. Der Schmerz in meiner Brust flammte erneut auf und einzelne Tränen liefen meine Wangen hinunter. Ich stellte mich zu Andreas. Jeder von uns hielt eine einzelne wunderschöne weiße Rose in der Hand. Ich musste leicht lächeln, denn eben diese Rosen hatte Chris mir damals zu meinem 16. Geburtstag geschenkt. Ich hatte dies nie vergessen.

Andreas senkte den Kopf und atmete kurz durch, ehe er sich neben das Grab kniete. "Hey Kleiner", flüsterte er. Wir waren die letzten Beiden hier, seine Familie hatte sich bereits etwas zurückgezogen. "Ich weiß du hörst mich vermutlich nicht mehr und das wird sich auch nicht mehr ändern, aber es gibt einfach noch so unglaublich vieles, was ich dir nie sagen konnte.". Tränen tropfen auf die kleinen Blätter der Rose in seiner Hand. "Ich hab dir nie gesagt, wie stolz ich auf dich war. Wie du mit allem umgegangen bist, immer positiv gedacht hast und dein Leben einfach gelebt hast.".

"Ich hab dich so unglaublich lieb Chris, ich weiß nicht, was ich jetzt ohne dich machen soll.". Ein leises Schluchzen folgte. Ich kniete mich zu ihm und legte stumm meine Hand auf seine Schulter. "Ich werd dich nie vergessen Bruder.". Er ließ seine Rose in das Grab fallen und sah ihr stumm nach. Er sah zu mir. "Danke, dass du noch bei ihm warst. Er war unglaublich glücklich mit dir.". Ich nickte stumm. "Er war meine erste und einzige große Liebe Andy, ich werde niemals mehr jemand anderen so sehr lieben wie ihn.".

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