Kapitel 33

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Yoongi:

Er machte das absichtlich. Es gab gar keine andere Möglichkeit. Immer, wenn ich ihm zufällig begegnete (was nicht oft passierte, denn ich befand mich entweder in meinem Zimmer oder war nicht zu Hause), lief er oberkörperfrei durch die Gegend und schminkte sich sogar. In. Meiner. Wohnung. Ohne irgendwo hinzugehen. Naja, ich bezweifelte stark, dass er die Ärzte im Krankenhaus verführen wollte.

Ich versuchte, ihm keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken, vielleicht würde es ihm zeigen, dass seine fragwürdigen Aktionen mir egal waren und vielleicht würde ich dies dann auch selbst glauben.

Es war so weit gekommen, dass ich fast nur nachts nach unten ging und dann Songs schrieb. Ich hatte zwar keine Inspirationen, weshalb das meiste, was dabei entstand, absoluter Müll war.

Gestern hatte ich für fünf Minuten mit Jimin geredet und herausgefunden, dass er nur noch eine Woche lang seine Therapie hatte. Er sagte, es wäre noch nicht klar, ob er dann alles überwunden hätte, vor allem, weil dies eine Art von Krebs war, bei der die Überlebenschancen für länger als fünf Jahre bei ungefähr fünfzehn Prozent lagen. Ziemliche Scheiße, dass ich mich ausgerechnet in ihn verliebt hatte.

In den letzten Wochen ohne ihn war mir einiges klargeworden.

1.     Ich bereute, ihn von mir gestoßen zu haben.

2.     Ich wollte mich dazu überwinden, ihm alles über mein Leben zu erzählen, doch ich brauchte Zeit, die ich möglicherweise nicht hatte, die er möglicherweise nicht hatte. Und so, wie es momentan war, konnten wir keine richtige Beziehung führen, die länger als ein paar Wochen halten würde.

3.     Es zerstörte mich, wie er mit jedem Tag trauriger aussah und aufhörte zu kämpfen. Ich wusste, er verlor langsam die Hoffnung daran, dass ich irgendwann auf ihn zukommen würde und das wirkte sich nicht gerade positiv auf seinen schon angeschlagenen Lebenswillen auf.

4.     Nachdem ich ein Gespräch zwischen ihm und Jungkook angehört hatte, hatte ich bemerkt, dass ich ein unglaubliches Arschloch war, weil ich die meiste Zeit mit ihm und Tae verbrachte und nichts von den beiden mitbekommen hatte. Außerdem hatte ich Jimin beschuldigt, etwas mit beiden am Laufen gehabt zu haben.


Ich seufzte. Es war gerade zwei Uhr nachts und ich saß auf dem Boden an ein Fenster im Wohnzimmer gelehnt. Müde sah ich nach unten, wo die Lichter der Stadt leuchteten, die jedoch unerreichbar für mich schienen.

„Yoongi?" Sofort sah ich auf und entdeckte Jimin, der schüchtern ein wenig entfernt von mir stand. „Ist alles in Ordnung?", fragte er und setzte sich mit einigem Abstand gegenüber von mir aufs Parkett.

„Nicht wirklich.", antwortete ich und überraschte mich damit selbst.

„Was ist denn?" Er wirkte wieder wie mein normaler Jiminie, der nicht irgendetwas ausprobierte, um mich an meine Grenzen zu bringen.

„Jimin? Wie geht es dir wirklich?" Ich riss mich vom Ausblick los zu ihm und er legte den Kopf schief, als wäre er verwirrt von meiner plötzlichen Gegenfrage.

„Worauf willst du hinaus?" Ich zuckte mit den Schultern. „Du sollst mir einfach nur sagen, wie es dir geht. Keine Kurzversion. Das ganze Gefühlschaos. Vielleicht fühle ich mich dann normaler, wenn ich nicht der einzige Überforderte hier bin." Gequält lächelte ich schief, doch er stieß nur einen großen Schwall Luft aus und legte sein Kinn auf seine Knie.

„Also...du willst es wirklich wissen? Nicht besonders gut. Ich bin immer müde, mir ist schlecht, ich nehme zu viel ab, weil ich mich die ganze Zeit übergebe und vermisse meine Haare. Das ‚ganze Gefühlschaos' ist noch schlimmer. Ich denke nicht, dass du das alles hören möchtest, aber ich vermisse es, mit dir zu reden, zu lesen, zu essen, Fernsehen zu gucken und zu kuscheln. Du bist mir wichtiger geworden, als du solltest und ich habe das hier nur für dich gemacht. Weil ich gehofft hatte... ich hatte gehofft..., dass wir...", er brach ab und schluchzte. Ich rutschte über den Boden zu ihm und legte ihm meinen Arm um die Schultern. „Ist auch egal. Jetzt ist es sowieso zu spät. Und ich weiß nicht, warum ich noch hier bin. Wahrscheinlich, weil diese dumme Hoffnung nie ganz verschwinden wird. Ich hasse dich dafür, dass du mich leiden lässt, Yoongi.", flüsterte er und schlug mir immer wieder verzweifelt gegen die Brust, bis ich sein Handgelenk umfasste und ihm einen Kuss auf seine Fingerknöchel gab.

„Tu das nicht. Das macht es nur schlimmer." Jimin zog seine Hand jedoch nicht weg, sondern strich mir mit seinem Daumen über die Unterlippe.

„Jimin... ich wollte dich nie verletzen. Okay, vielleicht schon, aber nur, weil ich dachte, dann würden meine eigenen Gefühle verschwinden. Ich würde immer bei dir bleiben, bis du das ganze hier überstanden hast und noch länger. Ich würde mit dir alt werden wollen und Kinder adoptieren.", gab ich genauso leise zu und er lachte, was sich ziemlich schnell in ein Schluchzen wandelte.

„Und warum sprichst du im Konjunktiv?" Er entfernte sich fast unmerklich von mir.

„Ich... habe Angst. Ich habe jemanden Wichtiges verloren und möchte mich selbst schützen. Darauf, das noch ein zweites Mal erleben zu müssen, kann ich verzichten.", erklärte ich und mied seinen Blick.

„Mhm.... Ich zwinge dich gar nicht, mir das zu erklären, obwohl es dir helfen würde, denke ich. Und denkst du, ich habe keine Angst? Leider doch. Um mich, ja, weil ich oft genug Leuten vertraut habe, die mich dann verlassen haben. Trotzdem habe ich noch daran geglaubt, dass ich einmal eine Person treffen werde, mit der alles besser wird. Dass du diese Person bist.

Du hast gefragt, warum ich beim Friedhof war und wer diese Person ist, die ich besucht habe. Meine Mutter. Sie hat es nicht ausgehalten, mit mir allein zu sein, nachdem uns schon mein Vater verlassen hat, als wir vom Krebs erfuhren. Mein Vater hat uns im Stich gelassen und es war meine Schuld. Meine Mutter war am Boden zerstört und ich war ihr nicht genug, um weiterzuleben. Sie hat ihn so sehr vermisst und ich war es ihr nicht wert, hierzubleiben." Jimin lachte hysterisch. „Nein, ganz im Gegenteil. Knapp eine Woche später hat sie sich umgebracht. Als ich reinkam, hat sie noch gelebt. Sie hat nichts gesagt. Nicht ein Wort. Sie hat mich einfach angeguckt und dann ist sie gestorben. Vor meinen Augen. Alles war voller Blut. Glaubst du, sie hat einen Brief geschrieben? Auch nicht. Anstatt dass sie mir zumindest etwas vorlügt, von wegen ‚es lag nicht an dir, ich habe einfach deinen Vater vermisst', damit ich besser mit diesen Schuldgefühlen leben konnte, hat sie mich einfach allein gelassen. Ich hatte niemanden. Wie du weißt, sind meine Freunde auch einfach gegangen. Und siehst du mich, wie ich jetzt für immer vor meinen Gefühlen wegrenne, weil ich etwas Schreckliches erlebt habe? Ich weiß nicht, ob du es wert bist, aber ich werde definitiv weiter versuchen, dir die Augen zu öffnen. Und wenn du nur Sex willst, dann bekomme ich wenigstens irgendetwas außer Schweigen von dir."

Ich war sprachlos. Jimin hatte so viel gesagt, dass ich nicht mehr hinterherkam. Er dachte wahrscheinlich, ich würde damit weitermachen, ihn zu ignorieren, doch eigentlich änderte sich mein Bild von ihm in meinem Kopf gerade radikal und ich überlegte verzweifelt, Worte zu finden, die ausdrückten, wie leid es mir tat. Mein Verhalten und seine Vergangenheit.

Aber ich fand nichts, was diesen Schmerz von ihm besser machen könnte, keine Worte, die ich kannte, waren dafür stark genug.

Als ich aufsah, war Jimin schon weg und ließ mich mit einem noch schlechteren Gewissen zurück.

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𝚒𝚏 𝚢𝚘𝚞 𝚋𝚎𝚕𝚒𝚎𝚟𝚎 / 𝚢𝚘𝚘𝚗𝚖𝚒𝚗Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt