27: Lügen.

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Ich weiß nicht, wie lange ich neben dieser Zapfsäule stehe, ins Leere starre und nicht blinzle, mindestens so lange, wie es dauert vertrocknete Augen und Stockbeine zu bekommen. Ich sage nichts, mein Mund ist trocken, ich würde nicht mal ein Wort rausbekommen, wenn ich wollen würde. Aber ich will auch gar nicht. Ich weiß nicht was, oder wie.

Seine Schwester?!

Wenn ich mich recht entsinne, ist Jakobs Schwester tot und das schon lange. Immerhin hat er es mir selbst erzählt, vor ein paar Tagen in Sydney hat er mir erzählt, dass seine Eltern, sowie Geschwister vor ein paar Jahren gestorben sind. Also entweder lügt dieses fremde Mädchen wie gedruckt, will Jakob und mir den Resturlaub, mir mein Restleben, zur Hölle machen und sich aufspielen, Wirbel um sich machen und Aufmerksamkeit bekommen, oder Jakob ist derjenige, der mich angelogen hat, von Anfang an.

Letzteres scheint mir unmöglich, niemals würde Jakob lügen, und mich anlügen schon mal gar nicht. Schließlich mag er mich, womöglich liebt er mich sogar, er schaut mich immer so an, wie ich gerade über ihn denke. Verliebt, liebend, glücklich, frei. Ich könnte Jakob nie anlügen.

Man lügt die Menschen, die man liebt, nicht an. Man betrachtet sie mit Liebe in den Augen, behandelt sie, als wären sie etwas Besonderes, selbst wenn sie stinknormale Mauerblümchen sind und noch nie etwas auffälliges getan haben, behandelt man sie besonders, denn mindestens für sich selbst ist diese Person etwas Besonderes.

Und besondere Menschen belügt man nicht.

Nie.

„Du verarschst mich ja wohl", stoße ich nach einer Ewigkeit des Schweigens aus und wische mir mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn, „Jakob-" Ich halte inne, fast hätte ich dieser irren Fremden verraten, dass Jakob keine Schwester mehr hat.

Angesprochener schaut immer wieder verwirrt zu mir hinüber, winkt und ruft, ob alles in Ordnung ist. Aber ich antworte ihm kein einziges Mal.

„Nein, Louisa, ich will das nicht am Telefon erklären." Paulas Stimme klingt verzweifelt. Zurecht! Was erlaubt sie sich auch einfach so eine riesige Lüge in die Welt zu setzen, die, wenn man darauf hineinfällt, was ich sicherlich nicht werde, einfach alles kaputt machen wird, was man sich aufgebaut hat? Was denkt Jakob denn von mir, wenn ich ihm erzähle, dass ich nicht mit meinem Vater, sondern einer Unbekannten telefoniert habe, die behauptet seine Schwester zu sein?

Er würde mich mit großer Wahrscheinlichkeit für durchgeknallt halten und den nächsten Flieger nach Deutschland nehmen, weil ich mit seinem Trauma spiele.

Das ist es doch! Jakob hat sich mir anvertraut, was ihm, ganz offensichtlich, nicht leichtgefallen ist. Wenn ich ihm hiervon erzähle, ziehe ich doch in Erwägung, nicht die ganze Wahrheit aus seinem Munde gehört zu haben und das wiederum bedeutet, dass ich sein Trauma, seine Geschichte, nicht glaube, sondern damit spiele.

„Louisa, ich weiß, dass das jetzt ziemlich unerwartet kam, und es tut mir leid dich damit konfrontieren zu müssen, aber es geht nicht anders. Ich habe erst letzte Woche davon erfahren und sein Onkel sagte er sei mit dir in Australien, aber nicht wo, also habe ich bei dir zuhause angerufen und dein Bruder meinte dann, dass er es nicht weiß, aber mal nachfragen wird. Und, naja, jetzt frage ich dich."

Ich seufze. Entweder dieses Mädchen hat dreimal den Grand-Prix im lügen und nicht erwischt werden gewonnen, oder sie sagt die Wahrheit. Jedenfalls klingt sie ehrlich, nicht wie jemand, der wahllos Leute anruft und sie mit idiotischem Zeug völlig verrückt macht.

Aber wie gesagt, ich besitze keine Menschenkenntnis.

Man merkt vielleicht, wie wenig ich wahrhaben möchte, dass Paula die Wahrheit sagt und, ja, vielleicht ist es egoistisch zu denken, dass sie uns damit den Urlaub und die Zweisamkeit zerstört, aber ich darf doch wohl auch ein einziges Mal wollen, dass es sich nur um mich dreht. Und um Jakob.

𝐴𝑢𝑓 𝑀𝑖𝑐ℎ 𝑊𝑎𝑟𝑡𝑒𝑛 𝐷𝑖𝑒 𝑆𝑡𝑒𝑟𝑛𝑒 ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt