33: Ende.

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Ich kann es noch immer hören. Noch eine Woche später kann ich das durchgehende Piepsen der Maschinen hören, als sie dich nicht mehr länger am Leben halten konnten. Als dein Bestehen von einem Moment auf den anderen nichts anderes mehr war als eine Erinnerung. Eine wunderschöne, leichenblasse Erinnerung und ich hatte Angst, diese Erinnerung würde irgendwann ganz verblassen.

In dieser Nacht hatte ich nicht geschlafen, meine Augen schmerzten bei jedem Wimpernschlag, darauf schob ich die Tränen. Ich sagte die Tränen kämen von meinen trockenen Augen, dabei war es genau andersherum. Ich hatte die ganze Nacht, den ganzen nächsten Tag geweint, weiß nicht einmal, wie ich nach Hause gekommen bin.

Den Rest der Woche lag ich in dem Zimmer, das seit sieben Jahren meines sein sollte, sich aber noch nie nach zuhause angefühlt hatte. Seit sieben Jahren sagte ich mir selbst ich sei dort nur zu besuch, nichts weiter. Konrad und Elizabeth wollten mit mir reden, jeden Tag versuchte sie es aufs Neue, aber ich konnte nichts sagen, ohne dabei in Tränen auszubrechen.

Ich hätte gerne mit meinen Eltern geredet. Ich hätte eine ihrer Umarmungen gebraucht.

Paula rief mich am Dienstag an, was irgendwie schön war und mir ein bisschen familiäres Gefühl in die Knochen jagte, aber als sie merkte, dass ich alles andere als in Redelaune war, beendete sie das Gespräch und ließ mich in Ruhe. Jeder hätte ihrem Beispiel folgen sollen, dann hätte ich meinem Freund Leo nicht die Nase zertrümmern müssen. Ich bin da wirklich nicht stolz darauf. Er wollte mich nur aufmuntern.

Dass er Brettspiele mitgebracht hat, die wir früher als Kleinkinder gespielt hatten, eines davon Doctor Bibber war und er jedes Mal an Herzversagen starb, half mir allerdings nicht dabei, bessere Laune zu bekommen.

Zur Testamentsvorlesung ging ich nur, weil Timo mich darum gebeten hatte. Er wollte einen ‚Neutralen Beisitzenden' dabeihaben, um sicher zu gehen, dass der Notar auch alles richtig vorlesen würde. Eure Eltern luden mich zum Essen ein, was komisch war, da niemand auch nur ein Wort zu den anderen sagte und deine Mutter nur Schluchzer in kontinuierlichen Abständen von sich gab. Das machte es für mich noch schwerer meine Tränendrüse unter Kontrolle zu bringen.

Heute ist Donnerstag, Tag der Beerdigung, der Tag, vor dem ich mich seit einer Woche fürchte. Deine Mutter hat mich gefragt, ob ich etwas sagen will, an der Beerdigung. Ich habe zugesagt, denn ich will das wirklich. Ich will wirklich etwas sagen. Aber die ganze Woche habe ich die weiße Wand vor mir angestarrt, als wäre sie ein leeres Blatt Papier, ein Test, auf den ich nicht gelernt habe, mir ist nichts eingefallen. Nichts, was man auf einer Beerdigung sagen kann.

Kein einziges Wort wäre dir auch nur ansatzweise gerecht geworden.

Und jetzt habe ich nichts. „I-ich weiß nicht, was ich sagen soll." Den Test leer abgegeben. Sechs. Durchgefallen. Wir sehen uns nächstes Jahr. Aber nein, wir sehen uns nicht nächstes Jahr. „Alles was ich von Lou gelernt habe hat gereicht, um zu überleben, stark zu sein und nie wieder eine Schule besuchen zu müssen. Ich würde nie auf eine andere Schule wollen, nirgendwo lernt man so viel für das Leben wie bei Lou. Ich bin mir sicher, jeder hier hat schon einen Rat von ihr bekommen, oder etwas von ihr gelernt. Sei es sowas einfaches wie weitermachen, wenn alles dagegenspricht, oder nach vorne schauen, die Vergangenheit hinter sich lassen, es war immer Lou. Sie hat mir beigebracht, dass man die Realität manchmal verschwommen sieht, was aber nicht bedeutet, dass sie wirklich unklar ist. Dank ihr kann ich der Zukunft eine Chance geben, obwohl die Vergangenheit nicht besonders nett zu mir war."

Kurz schaue ich zu Paula, die etwas weiter hinten steht und mich gefragt hat, ob es in Ordnung ist, wenn sie auch kommt. Ich wollte es ihr nicht verbieten. „Jeder von uns hat etwas verloren. Wir haben Lou verloren, Lou die Zeit und", ich stoppe für einen Moment, was ich als nächstes sagen will könnten einige hier falsch verstehen, aber Timo, der neben seiner kleinen Freundin sitzt, auf den Fingernagel seines Daumens beißt und offenbar weiß, was ich sagen will, nickt leicht. Also hole ich tief Luft. „Und in diesem Moment kann ich nicht sagen welcher Verlust schlimmer ist."

Leises Gemurmel raschelt durch die Reihen wie ein verfrühter Herbstwind und, vor allem der älteren Altersgruppe steht die Empörung ins Gesicht geschrieben. Natürlich weiß ich selbst, dass dein Verlust schlimmer ist als unserer, aber kann man das denn vergleichen? Dein Bruder grinst leicht, als eure Großmutter schnaubend den Kopf schüttelt und ich bin froh wenigstens ihn ein bisschen aufheitern zu können.

Ich bin noch lange nicht fertig, es gibt so viel, was in mir brodelt, wie ein Vulkan kurz bevor er explodiert. Ich will sagen, dass du mir in diesem einen Monat mehr Liebe gegeben hast, als in es in sieben Jahren jemals ein anderer schaffte. Ich will sagen, dass mich ohne dich noch immer meine Vergangenheit von innen auffressen würde, dass ich an diesen, chirurgisch nicht erkennbaren, inneren Verletzungen gestorben wäre, hättest du mir nicht gesagt, dass ich loslassen muss. Dass ich mich nach jedem Kuss, nach jedem Sex, selbst nach jeder noch so kleinen Berührung so frei gefühlt habe, wie noch nie. Dass meine Liebe für dich niemals enden wird. Dass ich ohne dich nicht hier stehen und weinen könnte, ohne wegzulaufen.

Aber all das sagt man nicht auf einer Beerdigung zu wildfremden Menschen, die noch nie in ihrem Leben auch nur ansatzweise so gefühlt haben.

Ich habe nicht gemerkt, dass ich angefangen habe zu weinen, ich weiß nicht, wie lange ich hier schon stehe, den Blicken der Leute nach zu urteilen eine Weile, also schlucke ich die kochend heiße Lava meinen wie zugeschnürten Hals hinunter, hauche ein leises „Danke." Und setze mich zurück auf meinen Platz. Ein kleines Mädchen, sie saß eine Reihe hinter mir, kommt unter meinem Stuhl hervorgekrochen. Verwirrt hebe ich ein Bein, aber sie beachtet mich nicht, kriecht durch die nächsten zwei Reihen, taucht plötzlich zwischen Timo und, ich denke, Lola auf und setzt sich auf den Schoß ihrer Schwester. Kurz sagt sie etwas zu Timo und wird dafür in den Kies geschubst. Timo wird mit den Blicken deiner Eltern ermahnt, der Pfarrer erzählt von Auferstehung nach dem Tod und ich sitze hier, mitten in der Menge, nur ein kleiner Punkt von vielen, weinend und vermisse dich.

Ich vermisse dich, Lou.

𝐴𝑢𝑓 𝑀𝑖𝑐ℎ 𝑊𝑎𝑟𝑡𝑒𝑛 𝐷𝑖𝑒 𝑆𝑡𝑒𝑟𝑛𝑒 ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt