31: Zuhause.

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‚Oh welche Zauber liegen in diesem kleinen Wort: Daheim.' – Emanuel Geibel

Falls es Daheim einen Zauber gibt, dann versteckt er sich vor mir, will nicht gesehen werden, denn während ich aus dem Fenster des Taxis schaue, in welchem wir sitzen, sehe ich keinen Grund hier zu bleiben, keinen einzigen.

Irgendwie hätte ich mir denken können, dass es regnet, wenn wir in Deutschland ankommen werden. Die Erholung der letzten Wochen scheint auf einen Schlag verflogen zu sein und ich fühle mich ganz schlapp und müde. Gut, das kann auch daran liegen, dass wir 33 Stunden in einem Flugzeug saßen, aber der plötzliche Wetterumschwung hat ganz bestimmt auch dazu beigetragen, dass ich mich fühle, als wäre eine Herde Kängurus über mich gehüpft.

Auch Jakob sieht nicht besonders fit aus, wie er da zusammengekauert neben mir im Taxi sitzt, seine Haare in alle Richtungen stehen und seine Augen nur halb geöffnet hat. Die Kapuze seines marineblauen Pullovers verdeckt das Vogelnest, welches er auf dem Kopf trägt und er spielt mit dem Bändel, als wäre er nervös, dass wir wieder in Deutschland sind. Ein kleines Lächeln ist schwach auf seinen Zügen zu sehen, als ich nach seiner Hand greife und sie fest umschließe.

Wie von allein streicht mein Daumen über die dicken Adern, die aus seinem Handrücken hervortreten und ich weiß, dass ich diese Hand unter keinen Umständen früher loslassen werde als nötig. Ich fange Jakobs Blick ein, der mit großen Augen von der Preisschaltuhr zu mir und dann wieder zurück gleitet, und folge diesem. Oha, das wird vielleicht teuer. Aber eigentlich ist das auch egal, wir haben die letzten zwei Wochen so viel Geld ausgegeben, da macht dieser Betrag den Riss in unseren Portemonnaies auch nicht größer.

Papa hatte sich angeboten uns vom Flughafen abzuholen, damit wir uns nach dem langen Flug nicht noch die Mühe machen müssen ein Taxi zu finden, was wir allerdings dankend angelehnt hatten. Es war schlimm genug zu wissen, dass unsere gemeinsame Zeit bald vorbei sein wird, da wollen wir jeden möglichen Moment der Zweisamkeit auskosten und nicht von meinem Vater zugetextet werden.

Mit jedem Meter, den wir mit dem Taxi passieren, wird uns die Gegend vertrauter, irgendwie heimeliger und nicht mehr so fremd. Bald erkennen wir einzelne Straßen und Gebäude wieder und wissen; Gleich ist es vorbei. Gleich kehrt der normale Alltag wieder zurück. Gleich sind wir nicht mehr allein. Ich weiß, dass er dasselbe fühlt wie ich, als ich Jakob betrachte.

Es ist Enttäuschung, gemischt mit Trauer und Fernweh. Fernweh, nach Strand, Sonne, Meer. Fernweh, nach Freiheit, Carpe Diem und laut brüllen, was einem auf dem Herzen liegt. Fernweh nach uns, als wir allein waren, niemanden kannten und den Tod für länger als je zuvor vergessen konnten. Weil wir einander geholfen und den anderen selbst dann glücklich gemacht haben, als wir selbst am Tiefpunkt angelangt waren.

Ich erkenne die Hauptstraße unseres kleinen Dorfes, als wir sie befahren und spüre ein schmerzhaftes Stechen in meiner Lunge, wie dieses, welches Jakob mich gelehrt hat zu ignorieren. Ich will nicht nach Hause. Zuhause kommen die Sorgen zurück. Die Sorgen, die ich alle in meinem Zimmer eingeschlossen habe, als ich abgereist bin. Die Sorgen, die mit ihren langen Fingernägeln an der Wand kratzen und nur darauf warten mich endlich wieder einhüllen zu können.

Irgendwie macht es mir Angst wieder nach Hause zu kommen.

Zuhause sein bedeutet in meinem Zimmer zu sitzen, über den Tod zu grübeln und ab und an das Haus zu verlassen, um im Krankenhaus von den verschiedensten Ärzten abgehört und untersucht zu werden. Es ist ein alltäglicher Kreislauf, der nie unterbrochen wird, der nie unterbrochen wurde, bis Jakob kam und ihn mit dem Glitzern seiner Augen und seinem unwiderstehlichen Lächeln durchbrochen hat.

„Ist dir auch so komisch?" Höre ich Jakob fragen und sehe, wie er seine Kapuze weiter über seine fettigen Locken zieht, um sie zu verdecken. Ich nicke, denn mir ist komisch. Schon seit zwei Tagen. Den ganzen Flug über hatte ich das Gefühl jeden Moment einfach zu ersticken. So schön der Blick durch das kaleidoskopische Fenster doch war, so anstrengend waren die restlichen Stunden, die wir eingekeilt auf unseren Sitzen verbracht hatten. Es ist kein Wunder, dass wir uns fühlen, wie gerädert und uns auf der Rückbank des Taxis ausbreiten, als wäre es unser Bett.

𝐴𝑢𝑓 𝑀𝑖𝑐ℎ 𝑊𝑎𝑟𝑡𝑒𝑛 𝐷𝑖𝑒 𝑆𝑡𝑒𝑟𝑛𝑒 ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt