22: Carpe Diem.

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Dieses Gefühl war anders als jedes, das ich bisher gefühlt habe. Es war befreit, glücklich, ruhig. Ich fühlte mich leicht, befreit und so geschützt, wie noch nie. Als hätte das Verlieren meiner Jungfräulichkeit einen Schutzmantel um uns gebaut, durch den niemand hindurch kam.

Wir waren an den Strand gegangen, als das Autodach unter unseren Körpern laut angefangen hatte zu knarzen, und nun liegen wir im Sand und ich lausche dem Rauschen der Wellen, die in gleichmäßigem Abstand an der Küste brechen.

Jakobs Kopf ist in meiner Halsbeuge vergraben, seine kontinuierlichen Atemzüge pusten dagegen, was mich davon ausgehen lässt, dass er eingeschlafen ist.

Seine wuscheligen Haare kitzeln mich an meiner Wange, während sein linker Arm über meinem Bauch liegt und meine rechte Hand hält.

Ein leiser Wind bläst mir ins Gesicht. Ich fühle mich frei. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich wirklich frei. Es gibt keine Ärzte, die mich in einem weißen Zimmer festhalten, keine Mutter die Angst um mich hat, wenn ich nur den Tisch decke, kein Timo der mich böse anschaut, weil er meine Haushaltsaufgaben übernehmen muss und vor allem keine nervige Großfamilie, die sich schon die Finger leckt, bis sie endlich mein Grab besuchen können.

Frei.

Ein schönes Wort, wenn man mich fragt. Frei sein ist, wenn man weder inneren noch äußeren Zwängen folgt, sondern das macht, was man für richtig hält. Was man selbst für richtig hält. Und das was ich gerade tue, ist richtiger als alles andere.

"Ich weiß, ihr wartet schon auf mich, aber vielleicht könnt ihr ja noch ein Weilchen auf mich verzichten. Es ist gerade ziemlich schön hier und ihr bekommt mich doch sowieso schon früh genug, also... vielleicht könnt ihr ja mal den Chef oder so fragen." Spreche ich gen Himmel und komme mir gleich darauf ziemlich dumm vor.

Ich spreche zwar schon mit den Sternen, seitdem ich weiß, dass irgendwas nicht mit mir stimmt, aber mit einem Mal kommt mir das ein wenig konspirativ vor.

"Mit wem redest du bitte?"

Jakobs Kopf hebt sich und er schaut mir mit einem verwirrten und verschlafenen Blick in die Augen.

"Ahh! Mein Gott! Ich dachte du schläfst!" Rufe ich erschrocken und versuche mein Herz unter Kontrolle zu bringen. "Du kannst mich auch Jakob nennen." Grinsend drückt er mir einen Kuss auf die Wange. "Also? Mit wem hast du geredet?"

"Mit den... Sternen...?" Kleinlaut gebe ich zu, zu wem ich gesprochen habe und merke wie mir sofort die Röte ins Gesicht schießt. Man ist das peinlich!

"Ahhh! Mit den Sternen! Und wieso das?" "Naja... weil sie auf mich warten... aber ich will noch nicht zu ihnen. Das wollte ich nur sagen."

Ein Grinsen schleicht sich auf die Lippen meines Freundes und er nickte, was seine Haare zum Wippen bringt. "Verstehe."

Moment, mein Freund? Hatte ich gerade gesagt 'mein Freund'? Ist er das denn? Ist Jakob mein Freund? Wir sind Freunde, klar, aber wir sind auch mehr als Freunde, zusammen aber nicht. Jedenfalls nicht offiziell. Ich habe ihn noch nicht gefragt und er mich auch nicht, also sind wir doch eigentlich nicht zusammen, immerhin muss das mit beiden Seiten abgesprochen werden, oder? Es konnte ja nicht einfach die eine Person behaupten, dass man zusammen wäre, während die andere Person genau das Gegenteil von sich gab.

Das wäre ja, als hätte Neil Armstrong sein berühmtes Zitat gesagt, seine Kollegen aber hätten „er ist tot" an die Erde weitergeleitet. Völlig sinnlos und von Gegenteilen und Verkennungen nur so protzend.

Aber fragt man heutzutage denn überhaupt noch "Willst du mit mir zusammen sein?" ?

„Lou! Deine Gedanken sind so laut. Ich kann dich denken hören!"

Meine Wangen erröten und drücke mein überhitztes Gesicht in den Wuschel aus Haaren auf seinem Kopf. „Tut mir leid..." Nuschle ich und krause die Nase, als sein Kopf unter leisem Kichern leicht vor sich hin wippt und seine Haare mich kitzeln. Lächelnd schließe ich die Augen und kann mir bildlich vorstellen, wie er grinsend meine Hand anstarrt und sie anpustet.

„Woran hast du gedacht?" Fragt er schließlich, ich denke kurz zurück und antworte: „Protzige Verkennungen und Neil Armstrong."

Mit dieser Antwort hat er wohl nicht gerechnet, mal wirklich, wer rechnet denn auch mit so etwas. „Das... macht noch weniger Sinn, als ich erwartet hatte..."

Kichernd setze ich mich auf, wische die Falten aus meinem Gesicht und gähne herzhaft. Es ist schön Jakob so schnell wieder lachen zu sehen, obwohl er mir gerade erst von seiner Familie, seiner Vergangenheit, erzählt hatte. Ich fand Jakobs Verhalten, als seine Eltern in das Spiel kamen, schon damals recht komisch, fand aber nie den Mut auf, ihn darauf anzusprechen, auch nicht, als er die Anrufe seiner ‚Mutter', wie ich zu dieser Zeit noch annahm, wegdrückte und ohne einen Satz dazu zu sagen, mit dem weiter machte, was er gerade tat

Augenscheinlich war es nicht seine Mutter, die er wegdrückte, wer es aber stattdessen war, wer Konrad und seine Frau, deren Name ich immer noch nicht wusste, wirklich waren, das hatte er mir nicht gesagt.

Die alte Louisa hätte die Gedanken beiseite geworfen, hätte sich weiter über ihr eigenes Leid beklagt und das ihrer Mitmenschen mit Absicht ignoriert und gedacht, ihr Problem wäre das einzig wichtige hier.

Aber die neue Lou würde vor so einer Frage nicht davonlaufen, sie nicht auf später aufschieben, denn Jakob hatte mich gelehrt, wie schnell dieses später eintreten konnte und würde, wenn man nicht jeden einzelnen Moment ausnutzte.

Carpe Diem. Nutze den Tag. Das hatte mich schon der Club der toten Dichter gelehrt, aber sie konnten nie ganz zu mir durchdringen. Genieße den Tag, denn die Momente von heute sind die Erinnerungen von morgen, das sagte Papa mir immer und immer wieder, aber auch da sah ich keinen Sinn dahinter. Es war mir egal, ich würde sowieso sterben, was machte es dann, wenn ich etwas unternahm, hatte ich gedacht.

Erinnerungen.

Und selbst wenn es nur kleine, wie das Rauschen des Meeres oder das Gefühl von Sand in den Augen war, es waren Erinnerungen, Und meistens waren es sowieso die kleinen Dinge, die diese Erinnerungen zu etwas besonderem machten. Die zum Rauschen des Meeres eine schöne Bootsfahrt und zum Sand die Hand des Geliebten, der ihn einem aus den Augen strich, hinzufügte.

Momente vergehen, aber Erinnerungen bleiben und meistens merkte man sowieso erst hinterher, dass man den Moment hätte genießen sollen, denn Momente sind wie ein Strom, man sieht ihn, aber kann ich nicht festhalten.

Und Jakob hatte den Spruch umgewandelt, denn nun hieß er: Nutze den Tag, denn die Fragen und verpassten Chancen von heute, sind der Tod und das Ärgern von morgen.

Carpe Diem.

***
Heute mal ein etwas, naja, sagen wir, poetischeres Kapitel :D

Ich wünsche einen schönen Muttertag :)

Xoxo Emma

𝐴𝑢𝑓 𝑀𝑖𝑐ℎ 𝑊𝑎𝑟𝑡𝑒𝑛 𝐷𝑖𝑒 𝑆𝑡𝑒𝑟𝑛𝑒 ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt