Es hatte eine Weile gedauert, Azriel zu überzeugen, dass mir nichts fehlte und er ruhigen Gewissens gehen konnte. Ich hatte ihn darum gebeten, den anderen nichts davon zu erzählen. Er war zwar nicht ganz glücklich darüber, aber er hat mir sein Wort gegeben, es erst mal für sich zu behalten. Doch lange konnte ich es nicht verborgen halten. Nachdem er weg war, war ich schließlich so erschöpft, dass ich doch noch ein paar Stunden Schlaf bekam.
Am nächsten Morgen öffnete ich die Augen und blinzelte der Sonne entgegen, die durch die Decken hohen Fenster schien und einen wunderschönen Ausblick auf die Stadt bot. Leichter Nebel hatte sich über Velaris gesenkt, und die Spuren vom Regen letzter Nacht glänzten in der aufgehenden Sonne. Ich schwang die Beine aus dem Bett und öffnete die verglaste Tür, die auf meinen kleinen Balkon führte. Die klare Luft wehte mir ins Gesicht und ich atmete tief durch. Ein Gespräch aus ferner Vergangenheit schlich sich in meine Gedanken, welches zuvor verborgen und beinahe vergessen in meinem Kopf herum geirrt war. Ich schnappte nach Luft, als mir die Bedeutung klar wurde. Jetzt machte alles ein wenig mehr Sinn. Rhysands Vater, der mich als Kind beobachten ließ, sein kalter Blick, als er mich in die Zelle verbannte. Und der Grund, warum sich das Tor zum Gefängnis unter meiner Hand geöffnet hatte. Ich klammerte mich am Geländer fest. Meine Überlegung, wie ich jetzt handeln sollte, wurde von Mor unterbrochen, die in mein Zimmer stürmte.
„Gut, du bist wach", sagte sie, statt einer Begrüßung, als sie mich auf dem Balkon stehen sah. Ihre goldblonden Haare waren zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel, und das hellblaue Gewand schmeichelte ihrer Figur. Es bestand aus einer lockeren Hose und einem Oberteil, welches bei jedem Schritt einen Streifen ihres Bauches freilegte.
„Amren hat mir erzählt, dass du und Cassian gestern im Gewitter weiter trainiert habt. Du musst mir alles erzählen.« Sie grinste, bereit auch die schmutzigen Details in sich aufzusaugen.
„Dir auch einen guten Morgen", sagte ich und ging wieder ins Zimmer. Mor hatte es sich bereits auf dem Bett gemütlich gemacht.
„Wir haben nur trainiert, da gibt es nicht viel zu erzählen", versuchte ich ihre Vorfreude zu zügeln, doch sie ließ sich nicht beirren. Ihre Augen funkelten schelmisch.
„Oh bitte, ich sehe doch, wie es seit Jahrhunderten zwischen euch knistert." Sie wedelte mit der Hand und ein üppiges Frühstück verteilte sich auf dem Bett. Sie nahm sich ein mit Marmelade beschmiertes Croissant. Ich seufzte, dann lächelte ich. Über das Gespräch wollte ich zuerst mit Rhysand sprechen, aber zunächst würde ich Mor über letzte Nacht berichten. Jedenfalls nur den Teil mit Cassian. Ich setzte mich zu ihr und frühstückte, während ich ihr alles erzählte.
„Und du hattest keine Panikattacke, als du imGewitter warst?", fragte sie und knabberte an einem Blaubeer-Muffin. Ich sah Sie überrascht an.
„Jetzt schau doch nicht so. Natürlich weiß ich davon. Wir alle wissen es. Doch wir haben nicht wirklich eine Möglichkeit gefunden, dir zu helfen, daher..." Sie zuckte mit den Schultern. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, dass Mor nichts entgeht. „Meine Panikattacken werden tatsächlich weniger", gab ich zu. Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber gestern war eine Ausnahme. Und das bedrückende Gefühl von gestern haftete immer noch an mir. Sie schmunzelte.
"Was?", fragte ich. Sie legte den Muffin beiseite und sah mich an.
„Es ist nur eine Beobachtung und ich kann nur spekulieren, aber deine Panikattacken werden weniger oder zumindest schwächer, wenn du in Cassians Nähe bist." Ich blinzelte erstaunt. Dann wurde mir klar, dass sie recht hatte. Ich verzog gequält das Gesicht. „Oh man, lass ihn das bloß nicht hören, sonst weicht er nie wieder von meiner Seite. Und noch mehr von seiner süffisanten Art kann ich echt nicht ertragen", jammerte ich. Mor lachte. Sie warf ihren Zopf über die Schulter und machte sich an, meinem Kleiderschrank zuschaffen. Sie musterte die Kleidungsstücke, nahm ein Kleiderbügel heraus, ein lockeres Kleid aus hellgrünem Stoff, drehte sich zu mir um, überlegte kurz und hängte es zurück in den Schrank. „Was genau ist das eigentlich zwischen dir und Cassian?", fragte sie beiläufig. Sie legte ein braunes Kleid heraus und nickte entschlossen.
"Das hier. "
Ich stand auf und löste meinenZopf, den ich zum Schlafen trug, und zog mich aus. „Um ehrlich zu sein, weiß ich es selbst nicht so genau", antworte ich und schlüpfte in das Kleid und zupfte die Ärmel zurecht.
Mor stemmte die Hände in die Hüfte. „Tja, dann wird es Zeit, dass du es Herausfindest." Ich verdrehte die Augen bei Ihrem anzüglichen Gesichtsausdruck.
„Hast du nichts Besseres zu tun, als mich im Morgengrauen mit Fragen zu löchern?", fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nö.« Sie streckte mir die Zunge raus und ich musste lachen. Dann fiel mir wieder ein, dass ich mit Rhysand sprechen musste.
„Sind die anderen auch schon wach?", fragte ich und ging zur Tür. Sie hackte sich bei mir ein und sagte: „Schauen wir doch nach."
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Das Reich der Sieben Höfe / Dunkelheit und Licht
Fantasy(Überarbeitung läuft) Nach Jahrhunderten in Dunkelheit, Verzweiflung und Einsamkeit, erblickt Aviana wieder das Licht der Welt. Ihr plötzliches auftauchen sorgt für Aufruhr im Inneren Kreis und reißt alte Wunden auf, die nie vollständig geheilt sin...