Das weiß-beige Kleid, welches ich trug, fühlte sich an wie eine Lüge. Die weichen Stoffe aus Chiffon und Seide schienen mich zu verspotten, genau wie die Blumen applikationen, die an der linken Seite des Kleides angenäht und in dem gleichen hellen Beigeton gehalten waren. Früher hätte ich dieses Kleid geliebt, doch jetzt war es wie eine fremde Haut, die ich mir über geworfen hatte, um mein zerrüttetes Inneres zu verschleiern. Doch es half mir, wieder in mein früheres Ich zu schlüpfen, bis ich die Einsamkeit des Gefängnisses ablegen konnte und wieder zu ihnen gehörte. Wir hatten uns alle im Wohnzimmer versammelt, da dort laut Mor eine entspanntere und lockerere Umgebung herrschte als in der Küche. Feyre, Rhysand und Mor saßen auf der Couch, die schon viele Jahre im Gebrauch und dementsprechend abgenutzt war. Das Feuer prasselte fröhlich in dem Kamin aus schwarzem Marmor und erhellte die Bücherregale, die an jeder Wand standen. Cassian hatte es sich auf einem der eleganten Sessel gemütlich gemacht und ich hatte mich ihm schräg gegenüber, ebenfalls auf dessen Gegenstück, niedergelassen. Azriel lehnte im Türrahmen und zeigte nicht die Absicht, sich zu setzen. Seine Schattenschwaden umgaben ihn und legten sein Gesicht in Dunkelheit. Nur das Feuer spiegelte sich in seinen Augen wieder. Er wirkte angespannt. So wie alle anderen auch. Amren hatte sich nicht mehrblicken lassen, aber ich ging einfach mal davon aus, dass sie irgendwo lauscht. Eigentlich war ich froh darüber, dass sie uns nicht mit ihrer Anwesenheit beehrt, aber es wäre dennoch eine Stärkung gewesen, sie an meiner Seite zu wissen. Sie ist die Einzige, die versteht, wie es ist, dort gefangen zu sein. Ich sah zu Feyre. Ich wusste nicht, wie viel Rhysand ihr erzählt hatte. Jedenfalls so viel, dass sie mich immer wieder mit einem neugierigen Ausdruck musterte.
„Ich sollte am besten am Anfang beginnen, als wir uns kennengelernt haben", ergriff ich schließlich das Wort und deutete mit einer Handbewegung auf Rhysand. Er nickte zustimmend.
„Meine Mutter war einer der Berater von Rhysands Vater. Sie war ebenfalls eine Samatarian und hatte daher einen gewissen Einfluss und verfügte über eine sehr starke Magie, welche allen Lichtwesen in die Wiege gelegt wurde. Wir sind eine machtvolle und sehr alte Spezies von Fae und sind deshalb an jedem Hof vertreten, eben um als Berater oder Sonstiges zu arbeiten." Feyre nickte leicht. Dann hatte Rhysand ihr bereits davon erzählt und ich konnte den Teil verkürzen. Rhysand wandte sich zu ihr.
„Du solltest wissen, dass Avianas Mutter die erste Frau war, die mein Vater in seinem Beraterkreis akzeptiert und respektiert hat", fügte er hinzu. Mor grinste breit und sagte: „Sie hat die Gleichberechtigung für Frauen deutlich ins Rollen gebracht. Jedenfalls am Nachthof. Und war ein Leitbild für jedes Mädchen und jede Frau in Verlaris." Ihre Augen funkelten vor Bewunderung.
„Klingt, als hätte sie sehr viel Einfluss und Anerkennung gehabt, auch seitens des High Lords", sagte Feyre. Ich nickte. „So kam es auch, dass unsere Mütter sich kennenlernten und sich angefreundet haben. Sie verbrachten vor und nach den Ratssitzungen viel Zeit miteinander. Rhys und ich sind uns das erste Mal im Haus der Winde begegnet. Das war, bevor seine Mutter ihn zu den Illyrianern gebracht hatte. Wir haben uns gut verstanden...bis er mich vom Balkon geschubst hat."
Feyres Kopf fuhr zu Rhys herum und starrte ihn mit offenem Mund an.
"Du hast was?"
"Hey, hey, hey. So war das nicht. Du kannst nicht einfach die Hälfte weglassen. Was soll denn bloß meine liebste Ferye von mir denken?", verteidigte er sich sofort und hob abwehrend die Hände. Cassian und Mor kicherten, versuchten es aber, ohne Erfolg, hinter einem Husten zu verstecken.
„Sie hat mich provoziert, ständig hat sie meine Flügel angestarrt und mich damit aufgezogen, ob ich mich mit diesen kleinen Dingern überhaupt in der Luft halten könne." Feyre, Mor und Cassian prusteten gleichzeitig los vor Lachen. Rhys warf ihnen einen beleidigten Blick zu, musste aber ebenfalls schmunzeln.
„Nun, ich dachte dann, dass sie es doch besser machen sollte. Sie hatte keine Flügel, und ich weiß nicht mehr genau, was ich mir dabei dachte, aber ich war deswegen so aufgebracht, dass ich sie schließlich vom Balkon stieß. Alles, was ich hörte, war ihr panischer Schrei, der immer leiser wurde",erzählte er weiter.
„Was ist dann geschehen?", fragte Feyre neugierig nach einer kurzen Pause. Ich musste leise kichern, bevor Rhys weitersprach.
„Ich erinnere mich noch an den Schatten meiner Mutter, der blitzschnell an mir vorbei schoss und in die Tiefe stürzte."
„Sie hat mich rechtzeitig aufgefangen, ich war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren", ergänzte ich und warf ihm einen bösen Blick zu. Rhysand fuhr ungerührt fort. „Als sie wieder auf dem Balkon landete, hielt sie eine zitternde und zerzauste Aviana im Arm. Sie brauchte einen Moment, um wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Ich hätte damit gerechnet, dass sie zu weinen anfängt oder auf mich losgeht, was wahrscheinlicher war. Meine Mutter würdigte mich die ganze Zeit über keines Blickes und versuchte nur, sie zu beruhigen. Doch dann sah sie mich eindringlich an und lachte so laut los, dass ich vor Schreck zusammenzuckte."
Ich konnte mich gut daran erinnern, wie ich völlig zerzaust und immer noch geschockt auf dem Balkonstand und einfach lauthals zu Lachen anfing. Die Situation schien mir damals so urkomisch vorgekommen zu sein, dass ich erst einige Minuten danach richtig wütend auf Rhys geworden bin.
„Sein Vater hat nie etwas von dieser Sache erfahren, was wohl das Beste für ihn war", sagte ich.
"Sie hat dann begeistert von dem aufregenden Kribbeln in ihrem Bauch gesprochen, als sie fiel. Und hat meine Mutter und mich gefragt, ob wir dieses Kribbeln auch immer spüren würden, wenn wir fliegen. Sie hat noch viele Fragen gestellt, bevor ihr wiedereinfiel, dass ich sie vom Balkon geschubst habe. Es brauchte eine Woche, bis sie wieder mit mir sprechen konnte, ohne mir Blicke zuzuwerfen, die zu sagen schienen, dass sie mich am liebsten in der Nacht erwürgt hätte", grinste Rhys und zwinkerte mir zu. Ich antwortete mit einem Augenrollen.
„Du kannst dir vorstellen, dass seine Mutter alles andere als Begeistert von der ganzen Sache war", sagte ich zu Feyre.
„Sie hat zwei volle Tage nicht mit mir geredet und mir danach eine saftige Strafe aufgelegt", grinste Rhysand. Nach einem Moment des Schweigens, in dem nur das friedliche Prasseln des Kamins zu hören war, ergriff ich wieder das Wort.
„Es vergingen danach einige Wochen, Rhys und ich verbrachten jede freie Minute zusammen und stellten immer wieder irgendwelchen Blödsinn an." Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor ich sagte: „Er war wie ein Bruder für mich."
Er erwiderte meinen Blick mit einem aufrichtigen Lächeln.
„Und sie war wie die kleine Schwester, die ich nie haben wollte", neckte er, seine Augen funkelten verschmitzt. Ich stieß einen empörten Laut aus und schleuderte ein Kissen nach ihm. Blödmann. Er fing es mit einer Hand auf, legte es sich in den Rücken und warf mir eine entschuldige Kusshand zu. Jedenfalls begann ich wieder mit meiner Erzählung. „Dann kam dann auch Mor dazu. In dieser Zeit merkte ich, wie meine Magie stärker wurde. Eines Tages habe ich mir selbst Flügel geschaffen, um genauso fliegen zu können wie Rhys. Seine Mutter war ziemlich überrascht, dass ich in dem jungen Alter meine Magie schon derart kontrollieren konnte. Jedoch waren meine Flügel zu dem Zeitpunkt viel zu schwach, um mich mit ihnen in der Luft halten zu können. Es brauchte eine geraume Zeit und viele Blaueflecken, bis ich mich mit meinen Flügeln vom Boden lösen und in der Luft schweben konnte. Rhysands Vater erfuhr von meiner unnatürlich starken Magie und ließ mich beobachten, unternahm aber erst mal nichts. Wahrscheinlich auch wegen Rhys Mutter, die mich unter ihre Obhut genommen hat, während meine Mutter arbeitete. Aber er hätte auch so nicht gewagt, mir etwas an zutun. Dafür war meine Mutter zu einflussreich und beliebt, als dass er es riskiert hätte, halb Verlaris gegen sich aufzubringen. Dann wurde Rhys zu den Illyrianern gebracht und Mor und ich verbrachten stattdessen sehr viel Zeit miteinander. Jedenfalls wenn sie vom Hof der Albträume entlassen wurde, was, zum Ärgernis ihrer Eltern, viel zu häufig war. Jedoch standen wir dabei immer unter den argwöhnischen Blicken seines Vaters." Mor nickte einfrig. „Wir konnten keinen Schritt machen, ohne dass er davon erfuhr. Das war echt mega nervig. Das hat uns aber nicht davon abgehalten, Unsinn anzustellen", sagte sie und warf mir ein diabolisches Lächeln zu. „Doch durch unsere wundervolle Aviana konnten wir uns mit Hilfe eines Tarnzaubers herausschleichen."
Feyre blieb verwirrt. „Zauber?"
„Ja, Samatarian können ihre Kraft durch bestimmte Zauber verstärken und somit komplexere Magie anwenden. Doch dafür braucht man die richtigen Zauberbücher, die schwer zu finden sind. Da es einige Zauber gibt, die eine unglaubliche Macht haben, sodass viele High-Lords diese Zauberbücher unter Verschluss halten. Zudem muss man seine Fähigkeiten erst ziemlich lange trainieren, um diese und die einfachen Zauber überhaupt anwenden zu können", erklärteich ihr. „Zu unserem Glück beherrschte ich die Grundlagen der hilfsreichsten Zauber schon ziemlich früh. Doch leider haben sie uns beim zweiten Mal erwischt."
"Ich wurde wieder zum Hof der Albträume geschickt und ihre Beobachtung wurde verstärkt. Das war das Ende unserer gemeinsamen Zeit. Wir haben uns erst wiedergesehen, als Rhys aus dem Illyrianerlager wiederkehrte", sagte Mor. In ihrer Hand erschien ein Glas Wein, welches sie kurz skeptisch schwenkte, dann einen großen Schluck nahm und es wieder verwinden ließ.
"Ich lernte dann Cassian und Azriel kennen. Wir haben alle zusammen trainiert, bevor Azriel von Rhys Vater als Schattensänger beansprucht wurde und Cassian und Rhys in den Krieg geschickt wurden", fuhr ich fort. "Hast du nicht im Krieg gekämpft", frage Feyre vorsichtig.
„Doch, aber nicht in ihrer Nähe, und ich konnte auch nicht lange an der Front kämpfen, so wie die anderen. Rhys Vater hat mich wieder zu sich bringen lassen. Er schien verärgert davon gewesen zu sein, dass ich gekämpft hatte. Ich kenne den Grund dafür nicht mehr, aber ich weiß noch, dass er mir verboten hat, zu euch zu stoßen", sagte ich und sah jeden von ihnen kurz an.
„Sie war zwar nicht lange auf dem Schlachtfeld, konnte aber nach dieser relativ kurzen Zeit eine gewisse Ehrfurcht auslösen, wann immer ihr Name erwähnt wurde. Die Gerüchte und Erzählungen über die berüchtigte Kämpferin drangen bis in die Illyrianische Steppe vor und kamen Azriel und mir schließlich auch zu Ohren", schaltete sich Cassian ein. Seine Augen glänzten im Schein des Feuers.
„Was die präzise und strategische Kampfkraft mit Magie angeht, ist sie uns weit überlegen", gab Azriel zu. Feyre blickte ihn überrascht an. Ich musste verlegen lächeln. Seine Worte erinnerten mich daran, Cassian zu bitten, mit mir zu trainieren. Ich will wieder zu meiner alten Stärke zurückfinden. In meinem jetzigen Zustand würde ich kaum meine Flügel formen können, geschweige denn mit ihnen fliegen. Und nach der besorgniserregenden Schilderung von Azriel, dass wir im Krieg gegen Hypern stehen, will ich nicht unvorbereitet sein. Ich war beinahe zwei Jahrhunderte gezwungen, in einer kleinen Zelle zu hausen. Ich konnte einfach nicht stillsitzen und nichts tun, auch wenn mir die Heilerin ermahnt hatte, es nicht zu überstürzen.
„Das liegt vor allem an den Zaubersprüchen, die ihr zur Verfügung stehen", sagte Rhys zu Feyre. "Einige von ihnen sind sogar meiner Kraftüberlegen."
„Aber ich war bis jetzt noch nicht stark genug, um einen von den wirklich komplizierten und mächtigen Zauber anzuwenden", fügte ich schnell hinzu, als Feyres Augen entsetzt weiteten. „Die Zauber sind doch sozusagen ein spezielles Hilfsmittel, um die Magie genauer einsetzen zu können. Könntet ihr dann auch diese Zauber benutzen? So wie eureTrichtersteine?", fragte sie verwirrt. Azriel schüttelte den Kopf.„Das ist eine vollkommen andere Form der Magie, welche sehr komplex ist. Nur die Samatarian können sie beherrschen und sie sind wohl auch die einzigen, die diese Schriften lesen können", erwiderte Azriel und steuerte einen der anderen Sessel an, die extra so konstruiert waren, dass auch ein beflügelter Illyrianer darauf Platz fand.
„Vielleicht wäre Amren noch dazu in der Lage, die Bücher zu entziffern", überlegte er, während er sich setzte.„Das kann ich auch", ertönte Amrens Stimme aus dem Flur. Wir mussten alle schmunzeln. Dann lag ich wohl mit meiner Vermutung richtig, dass sie irgendwo lümmelte und lauschte. Cassian lehnte sich zurück und warf mir einen wissenden Blick zu. Er hatte wohl auch damit gerechnet.Ich schluckte nervös, bevor ich meine Geschichte fortsetzte. „Ich war in der Bibliothek, als ich davon erfuhr, dass der High Lord des Frühlings Rhys Mutter und seine Schwester getötet hatte, und dass meine Mutter dazwischen geraten ist und ebenfalls umgebracht wurde."
Ich wollte diesen Teil so schnell wie möglich hinter mich bringen und hielt ihn so kurz, wie es nur ging.
Es war keinem von uns angenehm, wenn ich wieder alte Wunden aufreiße.
"Als Rhys von der Front zurückgerufen wurde, hatten wir nicht viel Zeit, uns über die vergangenen Geschehnisse auszutauschen". Ich senkte den Blick.„Das... Das war das letzte Mal, das ich ihn sah."
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Das Reich der Sieben Höfe / Dunkelheit und Licht
FantastikNach Jahrhunderten in Dunkelheit, Verzweiflung und Einsamkeit, erblickt Aviana wieder das Licht der Welt. Ihr plötzliches auftauchen sorgt für Aufruhr im Inneren Kreis und reißt alte Wunden auf, die nie vollständig geheilt sind. Geheimnisse werden...