Furcht

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Cassian fuhr aus dem Schlaf hoch und griff nach seinem Messer auf seinem Nachttisch. Er wusste nicht, warum. Er hatte keinen Albtraum gehabt und auch nichts Verdächtiges gehört. Dennoch rasten Angst und Schreck durch seine Adern und beschleunigten seinen Herzschlag. Der Trichterstein in seiner Hand leuchtete wie frisches Blut, als würde er auch nach einem Feind suchen, der sich vielleicht Zutritt verschafft hat.
Nichts.
Aber die Luft hatte sich verändert, es roch nach Verzweiflung und Tod. Dann flackerten die Faelichter auf, flimmerten, blinkten und leuchteten, als versuchten sie ihm etwas mitzuteilen. Ein Hilferuf.
Er sprang aus dem Bett und die Tür öffnete sich, bevor er sie aufreißen konnte. Er hatte so etwas Ähnliches schon mal gespürt, als Aviana eine Panikattacke hatte. Mit dem Messer in der Hand und Panik im Herzen stürzte er in den Flur.
Ein Sekundenbruchteil später flog Azriels Tür auf und die Schritte seines Bruders schlossen zu ihm auf, als Cassian die Treppe erreichte und hinauf rannte – er flog beinahe.
Er hatte gerade einen Fuß in den Flur gesetzt, als Aviana schrie. Kein Wutschrei, sonder nnacktes Entsetzten. Sein Körper fokussierte sich auf diesem Schrei, als wäre er nur noch das Messer in seiner Hand – bereit, alles auszulöschen, was sie bedrohte.
Cassian stürmte als Erster in ihr Zimmer, Azriel dicht hinter ihm.
Beide blieben abrupt stehen, als sie keine sichtbare Bedrohung finden konnten.
Aviana stand völlig aufgelöst in der Mitte des Zimmers und drehte sich langsam um die eigene Achse, als würde sie mehreren unsichtbaren Gegnern gegenüberstehen. Ihr Kopf fuhr voller Panik zu ihnen herum, als sie in ihr Zimmer gerannt kamen. Doch statt Erleichtung riss sie ihre Augen nur noch weiter auf und wich zurück.
Cassian ging vorsichtig ein Schritt auf sie zu.
„Bleibt weg!", rief sie mit kratziger Stimme und hob abwehrend ihre Arme.
In ihren Augen stand pure Furcht.
Sie wirbelte herum, schlug in die Leere und keuchte auf. Ein Wort war zu verstehen: „Nein."
Flehend schrie sie wieder und wieder: „Nein,nein, nein, ich gehe nicht zurück."
Sie hatte eine Panikattacke – aber eine, die er in so einer Form noch nie gesehen hat.
„Aviana", sagte Cassian mit fester, ruhiger Stimme und wagte noch einen Schritt auf sie zu.
Ihre Augen glühten wie brennendes Gold, als sie zu ihm herumfuhr und ihn fixierte. Er spürte, wie ihre Macht in ihren Adern pulsierte. Doch er wollte sich nicht davon einschüchtern lassen.
„Ich bezahle den Preis doch schon", wimmerte sie. „Lasst mich in Ruhe und seid still!", sie presste ihre Hände auf die Ohren.
Ihre Bewegungen wurden hektischer und die Luft um sie herum vibrierte.
„Cassian",nwarnte Azriel. Doch in diesem Moment schoss eine Welle der Macht ausnihr heraus, wieder auf den unsichtbaren Feind gerichtet. Beide Illyrinaner mussten ihren Stand festigen, um nicht davon umgeworfen zu werden.
Die Fenster des Zimmers explodierten.
Die Nacht donnerte herein, voller Schatten, Wind und Sternen. Und Rhysand tauchte auf. Sein Bruder rief ihren Namen, doch keines seiner Worte drang zu ihr durch. Rhys versuchte sie mit seiner Macht zu beruhigen, warf die Dunkelheit wie ein Sternennetz über sie, doch ihre eigene Macht kämpfte dagegen an – als wären die beiden Kräfte Schwerter, die in einer Schlacht gegeneinander um die Oberhand rangen.
Cassian erkannte an Rhysands Lippen bewegungen, was er ihr zurief: Beruhige dich. Es ist nicht real.
Aber ihr Blick huschte zwischen den Dreien hin und her, bereit, auch an drei Fronten kämpfen zu müssen. Cassian wollte nicht wissen, was ihr Verstand ihr vorspielte, dass sie derart in Panik verfiel.
Alle drei tauschten einen Blick aus und kreisten sie dann vorsichtig ein. Sie mussten verhindern, dass ihre Magie weiter unkontrolliert aus ihr heraus schoss.
Rhysands Macht versuchte weiterhin, zu ihr durchzudringen.
Das Glühen in ihren Augen erlosch und wurde wieder von nackter Furcht ersetzt. Ihr unterer Rücken stieß gegen einen kleinen Tisch und der Spiegel, der darauf stand, fiel herunter und zerbrach in viele lange Scherben. Sie zuckte heftig zusammen.
Die Hoffung, dass dieses laute Geräusch sie vielleicht aus ihrer Panikattacke holt, verflog in dem Moment, als sie sich so schnell bückte, eine Scherbe aufhob und sie in Cassians Richtung schleuderte, dass er kaum reagieren konnte. Er wich zwar rechtzeitig aus, spürte aber einen brennenden Schmerz an der Wange.
Ihr Kopf wirbelte zu allen Seiten herum, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Ihr Blick huschte wieder zu dem glänzenden, zerbrochenen Spiegel auf dem Boden. Azriel und Cassian reagierten sofort und packten sie an den Armen, bevor sie sich die scharfe Kante an die Handgelenke setzten konnte, die sie sich dennoch schnappen konnte. Verzweifelt stieß sie wieder einen Schrei aus und wand sich. Beide mussten ihre gesamte Kraft aufbringen, um ihren wilden Körper halten zu können.
„Lasst es mich beenden!", kreischte sie und versuchte wieder, die Scherbe an ihren Arm zu führen. „Ich gehe nicht zurück, lieber sterbe ich, als zurückzukehren! Lasst es mich beenden!"
Bei ihren Worten zerbrach etwas in Cassian und er verzog gequält das Gesicht. Dann packte er ihre Hand, in der sie die Scherbe hielt.
„Lasst es mich beenden!", schluchzte sie und wand und krümmte sich weiter. Ihre Macht brodelte wieder in ihr auf und warf die beiden zurück. Cassian war als Erstes wieder auf den Beinen und packte sie an den Schultern, doch dann wurde sie plötzlich ganz ruhig, ihre Atmung und ihr Herzschlag normalisierten sich und die Scherbe fiel ihr aus der Hand. Rhysand erstarrte auf eine Weise, die Cassian verriet, dass sein Bruder nicht mehr vollkommen anwesend, sondern in Avianas Geist eingedrungen ist. Was ihm offensichtlich erst jetzt gelungen ist. Cassian dachte nur selten an Rhys' Macht als Daemati – eine Kraft, über die auch Feyre verfügte – und er war noch nie zuvor so dankbar dafür gewesen wie jetzt.
Avianas Körper wurde schwach und Cassian kniete sich mit ihr hin. Ihr Kopf hing zwischen ihren Armen und ihre Hände hatten sich in sein Hemd gekrallt.
Er wagte es kaum, zu atmen, obwohl sein Herz immer noch so heftig gegen seinen Brustkorb donnerte, als hätte er gerade eine blutige Schlacht hinter sich gebracht. Sogar in Azriels Blick stand das blanke Entsetzen und noch etwas anderes... Reue...
Das war weitaus heftiger gewesen als eine Panikattacke. Sie hat Halluzination und Wirklichkeit nicht mehr auseinander halten können.
Es grauste ihm davor, was passiert wäre, wenn sie nicht so schnell bei ihr sein konnten. Wenn Azriel und er in dieser Nacht nicht im Stadthaus übernachtet hätten.
Ihre Rufe, sich das Leben nehmen zu wollen, hallten immer noch in seinem Kopf nach. Wie Glockenschläge brannten sie sich in seine Erinnerungen.
Cassian schluckte und sah zu Rhysand. Was auch immer er in ihren Geist gesehen hatte, zeichnete sich jetzt in seinem Gesicht ab, doch seine Augen fixierten etwas anderes und Rhys Kiefer verkrampfte sich.
„Was ist das?", fragte er angespannt. Die Blicke von Azriel und Cassian hefteten sich an Avianas linken Arm. Ihre komplette Hand und ihr halber Unterarm waren von Schwarzen Linien durchzogen... Nein, keine Linien, es waren ihre Adern, die sich verfärbt hatten, und alle drei konnten einen kurzen Moment lang beobachten, wie diese Schwärze weiter ihren Arm hochkroch und dann stoppte.
„Cassian?", hauchte Aviana leise und hob den Kopf, sodass er sich in ihren Augen spiegelte.
„Ich bin hier", murmelte er.
Ihr Blick wanderte zu ihrem Arm und ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Schnell versuchte sie, ihren Arm wiederzubedecken, merkte dann aber, dass es zu spät war. Zitternd seufzte sie, als würde eine Last von ihr abfallen, die schon länger auf ihr ruhte.
„Sie... Sie wollten mich zurückbringen, ich...kann nicht wieder zurück. Ich kann nicht.« Cassian verstärkte den Druck seiner Hände auf ihren Rücken.
„Du bist hier in Sicherheit, das, was du gesehen hast, war nicht real", sagte er mit sanfter Stimme.
Ich zahle den Preis doch schon.
Diese Worte ließen ihn nicht mehr los, aber er war noch zu verstört, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
„Tut mir leid", sagte sie leise, als sie das verwüstete Zimmer und die zerbrochenen Fenster bemerkte.

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Ich blinzelte der Sonne entgegen, als ich die Augen öffnete. Ich lag in meinem Bett, die Bettlaken zerwühlt und der Rest des Raumes immer noch etwas verwüstet. Jedoch schien es so, als hätte jemand versucht, das grobe Chaos zu beseitigen, das ich verursacht habe.
Ich erinnerte mich an das Geräusch von zerbrochenem Glas und mein Blick schweifte zu den Fenstern. Sie sind repariert worden und gaben keinerlei Anzeichen dafür, was geschehen ist. Unwillkürlich fing mein Körper wieder an zu zittern, als mir die Schrecken der letzten Nacht durch den Kopf schwirrten. Meine eigenen Schreie lagen mir noch immer in den Ohren. Eine Stimme hatte sich durch die Finsternis einen Weg zu mir gebahnt und hatte einen Teil von mir daran erinnert, wer ich war und dass ich mich wehren konnte. Ich spürte immer noch das Prickeln von Magie auf meiner Haut und Cassians Hände auf meinem Körper.
Erst jetzt bemerkte ich das gleichmäßige Atmen und den vertrauten Duft, der in der Luft lag.
Cassian saß in einem Sessel, der vorher nicht in meinem Zimmer war und wahrscheinlich von ihm oder jemand anderen rein gebracht wurde. Sein Kopf hing leicht zur Seite und seine Schwingen berührten den Boden. Ich sah die ungewöhnlichen Blässe seines Gesichts, die gerunzelte Stirn, als würde er sich sogar im Schlaf um mich sorgen. Die Sonne brachte die rotgoldenen Farbnuancen seiner Haare und seiner Flügel zum Vorschein.
Meine Kehle war trocken, als ich schluckte. Er hatte wohl die ganze Nacht an meinem Bett gesessen und über mich gewacht. Ich sah seinen und Azriels entsetzten Gesichtsausdruck vor mir, als sie mich soweit beruhigen konnten, dass ich sie wieder erkannte. Ich erschauderte, als ich daran dachte, dass ich sie für die Wächter des Gefängnisses gehalten habe. Wäre ich zu dem Zeitpunkt nicht so verängstigt gewesen, hätte ich sie sehr viel kraftvoller angegriffen als mit der Welle meiner Magie. Ich hätte sie verletzen können. Und zwar richtig verletzen können, wenn Rhysand nicht aufgetaucht wäre. Tränen brannten in meinen Augen, die ich schnell wegblickte.
Die dunklen Adern an meinem linken Arm wurden von der hellen Bettwäsche hervorgehoben und zogen meinen Blick auf sich.
Ich sehnte mich nach der Erleichterung, die ich verspürt hatte, als dieses Geheimnis endlich aufgedeckt wurde. Doch jetzt blieb nur ein dumpfes Pochen zurück und die Vorahnung, was mich erwartete, wenn sie mich darauf ansprachen. Vielleicht hatte Azriel bereits herausfinden können, was es damit auf sich hat. Das könnte mir eine schmerzvolle Erklärung ersparen.

Das Reich der Sieben Höfe / Dunkelheit und LichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt