Den restlichen Morgen verbrachten wir, um über die Bedeutung zu sprechen, dass ich Rhysands Halbschwester war. Mor, Feyre, Amren und Azriel wurden ebenfalls über diese Wendung eingeweiht, doch Cassian hatte ich seit unserer Auseinandersetzung nicht mehr gesehen. Doch er würde früh genug auch davon in Kenntnis gesetzt werden.
Wir hatten uns ins Esszimmer begeben und besprachen verschiedene Dinge, doch wir könnten nur spekulieren, warum der damalige High Lord mich wegsperren ließ, welche Gründe er dafür hatte, und ob, außer Keir, noch jemand davon wusste. Die Antwort auf diese Fragen blieb uns allerdings verwehrt. Doch wir konnten schnell herausfinden, dass ich das Tor des Gefängnisses öffen konnte, weil ich das Blut des High Lords in mir trug. Amren warf daraufhin die Frage auf, ob ich auch ein Teil der Macht des High Lords aufgenommen habe, als er getötet wurde. Was eigentlich nicht möglich war. Doch es stand außer Frage, dass ich mächtiger werden würde, wenn die Magie meiner Vorfahren in mich übergeht, und dass ich die Kraft dazu haben werde, dies zu überleben. Was jedoch nur eine kleine Erleichterung war.Mor entführte mich danach, um mit ihrer ‚Frisch gebackenen Cousine' durch Velaris zu schlendern. Die frische Luft tat gut, genauso wie die vertrauten Gassen und Gerüche. Meinen Dolch trug ich an meinem Oberschenkel und das kühle Metall schmiegte sich vertraut an meine Haut. Die Sonne stand hoch am Himmel und wärmte angenehm mein Gesicht. Die Jahreszeit würde bald in den Herbst übergehen, doch jetzt genossen wir das fröhliche, sommerliche Treiben der Stadt. Fässer aller Art saßen in Cafés, flanierten durch die Marktstände oder standen auf den vielen Brücken und beobachteten das Wasser. Kinder liefen lachend, kreischend durch die Straßen und die Luft roch nach Salz und Zitronen. Am Fuß des Hügels zog sich ein breiter Fluss dahin, er funkelte saphierblau in dem sanften Sonnenlicht und schlängelte sich durch die Stadt bis zu einer weiten Wasserfläche, die den gesamten Horizont einnahm. Unsere Kleidung flatterte im Wind, der vom Meer durch die Straßen wehte. Und man konnte die vielen kleinen und großen Schiffe und Fischerboote erkennen, die sich an der Küste tummelten. Velaris lag über mehrere sanfte Hügel entlang des Flusses verteilt da. Die eng aneinander gereihten Häuser waren entweder aus weißem Marmor oder aus cremefarbenem Sandstein. Die Stadt wurde durch eine gezackte Bergkette geschützt und ich konnte das Haus der Winde erkennen, welches auf dem mittleren Gipfel gebaut worden war. Doch die Stadt wurde nicht nur von den Bergen und den Mauern geschützt. Die ehemaligen High Lords hatten die Stadt mit vielen mächtigen Schutzzaubern vor dem Rest der Welt verhüllt, sodass niemand von der Existenz dieser friedlichen Stadt wusste.
Velaris war bei Tag wunderschön, doch bei Nacht atemberaubend. Die Stadt pulsierte gerade zu und leuchtete im Mondlicht. Denn sie wurde nicht umsonst Stadt des Sternenlichts genannt. Ich fragte mich, wann ich diesen Anblick wieder in mir aufnehmen konnte, der nur noch eine schwache Erinnerung war, nach knapp 200 Jahren in einer Zelle. Doch die Angst vor der Finsternis verwehrte es mir. Mor schüttelte mich und riss mich aus meinen Gedanken.
„Hey, was soll denn dieser trübsinnige Blick?" Sie schenkte mir ein herzerwärmendes Lächeln und zog mich weiter.
Sie seufzte. „Rhysand will mir einfach nicht verraten, woher er diese wunderschönen Kleider für Feyre herbekommt. Ich suche schon seit Wochen nach dem Laden, aber ohne Erfolg." Ich lachte leise.
„Ich kann mir denken, warum er dich in sein kleines Geheimnis nicht einweiht."
Sie warf mir einen Seitenblick zu und zog die Lippen kraus. „Das ist mal wieder typisch für ihn. Wahrscheinlich befürchtet er, dass ich den ganzen Laden leer kaufe, wenn ich davon wüsste."
Ich schmunzelte.
„Und er hat damit natürlich Recht", fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. "Aber es nervt trotzdem." Sie schnaufte beleidigt und ich kicherte wieder.
„Vielleicht solltest du Azriel darauf ansetzen, er ist doch hier der Meisterspion", schlug ich mit gespielter Ernsthaftigkeit vor. „Obwohl er dich wahrscheinlich für deine Besessenheit für schöne Kleider auslachen würde."
„Du bist keine Hilfe", schmollte sie und stemmte die Hände in die Hüfte.
Die Sonne wanderte langsam weiter und die Straßen wurden leerer, die Restaurants hingegen voller. Die Geräusche von Tellern, Besteck und Gesprächen lösten die nachmittagliche Ruhe ab.
Am Ende unserer Tour standen wir auf einer geschwungenen Brücke, von der aus man einen perfekten Blick über die Stadt hat. Das Wasser unter uns plätscherte. Mor lehnte neben mir an dem verschnörkelten Geländer. Sie hatte ihr Gesicht gegen Himmel gewandt und Musik schwebte leise durch die Straßen. Eine hübsche Melodie von einer Violine gespielt, die durch ein Klavier begleitet wurde.
„Weißt du, ich kann Cassians Besorgnis verstehen", sagte sie. Ich versteifte mich. Der Tag in der Stadt war eine willkommene Ablenkung gewesen, doch früher oder später hätte sie ohnehin dieses Thema angeschnitten.
Natürlich konnte ich Cassians Verhalten nachvollziehen, aber es machte mich wütend, wenn er mich so behandelte, als hätte ich noch nie ein Schwert gehalten. Auch wenn er genau wusste, wozu ich fähig war, egal ob mit oder ohne Magie.
„Wir haben dich gerade erst zurück und wir wissen auch nicht, wann du deine Magie zurück bekommst", fuhr sie fort.
"Mor... "
„Ich weiß, dass du stark bist, das wissen wir alle", sagte sie schnell. „Wir konnten damals nichts tun, um dir zu helfen, und bis vor ein paar Wochen wussten wir nicht mal, dass du noch lebst." Ihr Gesicht verdunkelte sich, als würde sie an etwas Schmerzvolles zurückdenken.„Deshalb sind wir alle gerade so unausstehlich, was den Krieg und dich angeht." Sie drehte sich zu mir um. „Das wollte ich nur noch sagen", sagte sie und ihr Gesicht erhellte sich wieder. Sie drückte meinen Oberarm und grinste. „Ich werde mich dann mal fürs Rita umziehen", verkündete sie und wandte sich zum Gehen. Ich liebte sie dafür, dass sie nicht fragte, ob ich sie begleiten möchte. Ich lehnte meine Unterarme auf das Geländer. „Dann viel Spaß", verabschiedete ich sie. Mor wackelte zweideutig mit den Augenbrauen und teilte den Wind.
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Das Reich der Sieben Höfe / Dunkelheit und Licht
FantasíaNach Jahrhunderten in Dunkelheit, Verzweiflung und Einsamkeit, erblickt Aviana wieder das Licht der Welt. Ihr plötzliches auftauchen sorgt für Aufruhr im Inneren Kreis und reißt alte Wunden auf, die nie vollständig geheilt sind. Geheimnisse werden...