„Gut, jetzt, da alle da sind, können wir beginnen", sagte Rhysand, als Mor und ich gleichzeitig im Türrahmen erschienen und an die kleine Tafel im Stadthaus traten. Diese war nur mit Weingläsern und einer großen Karaffe Wein ausgestattet. Ein Korb, der mit frischen Baguette gefüllt war, stand in der Mitte, und darum verteilt standen diverse Aufstiche in kleinen Schalen aus Olivenholz. Ich setzte mich Cassian gegenüber und Mor nahm den Platz am Kopfende ein, sodass sie von Rhysand und Feyre ein geschlossen wurde. Azriel saß am anderen Kopfende.
Nur Amren fehlte. Sie brütete wahrscheinlich wieder über dem Buch des Atems und übersetzte mühselig die fremde Sprache.
Als sie das Buch vom Sommerhof gestohlen hatten, war sie nicht gerade begeistert davon gewesen, damit allein zu sein, da es einen eigenen Willen hatte. Feyre hatte sogar gesagt, dass es zu ihr sprach. Doch jetzt war sie so besessen davon wie ein Drache von seinem Schatz.
Cassians Blick fand meinen und zwinkerte mir grinsend zu. Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen. Der Kampf vor ein paar Tagen, nachdem ich meine Magie zurückbekommen hatte, ging leider unentschieden aus. Mir taten immer noch einige Knochen weh, aber das war ich gewöhnt. Endlich fühlte ich mich wahrhaftig angekommen, doch wann immer ich mit Cassian zusammen war, sprach eine kleine Stimme in meinem Kopf zu mir, dass ich mich nicht zu sehr auf ihn einlassen sollte. Erst hatte ich auf sie gehört, doch nach der Nacht auf dem Balkon hatte ich sie ignoriert, aber sie war immer noch da und löste ein unwohles Gefühl in mir aus. Zudem wurde diese Stimme mit jedem Tag lauter. Ich nahm mir ein Stück Brot und Mor sah neugierig zu Rhysand. „Was gibt's denn?", fragte sie und schenkte sich ein Glas Wein ein. Azriels Augen verfolgten jeden ihrer Bewegungen.
„Die High Lords haben auf meine Einladung zu einem Treffen geantwortet", verkündete er ohne Umschweife. Wir sahen ihn alle überrascht an.
Cassian Pfiff durch die Zähne.
„Das ging schneller als erwartet", murmelte er. Feyre sah ihren Seelengefährten unruhig an. „Alle Höfe?", fragte sie.
„Alle", antworte Rhys, „Aber ich gehe nicht davon aus, dass er tatsächlich auch auftauchen wird."
Jedem war klar, dass sie über Tamlin sprachen. Nachdem Feyre seinen Hof infiltriert hat und zusammen mit Lucien geflohen ist, hat der High Lord sich zurück gezogen. Sogar Azriels Spione konnten kaum etwas Neues herausfinden.
„Eigentlich wäre es wichtig, wenn er kommen würde, da er sich von allen am nächsten dazu verleiten lassen könnte, sich Hypern anzuschließen." warf Mor ein.
„Zudem wird Tamlin nicht viel widerstand bleiben, da sein Hof am Abgrund steht. Wenn Hypern Zugang zum Frühlinghof bekommt, können sie die Mauer ungehindert auf Schwachstellen untersuchen", fügte ich hinzu. Rhys nickte grimmig. Cassian schnaubte. „Er könnte sich auch jetzt schon mit dem Feind verbündetet haben. Er hat es schon mal getan, um Feyre zurückzubekommen. Er hat nichts mehr zuverlieren", brummte er.
Rhysand verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte besorgt die Stirn, dann seufzte er schwer. „Es bringt nichts weiter, darüber zu spekulieren. Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie wir die Höfe auf unsere Seite ziehen können und in Erfahrung bringen, wo sie gerade stehen." Ein Blick zu seinem Schattensänger genügte. Azriel nickte. Da kam mir in den Sinn, dass ich auch gerne wieder für ihn spionieren würde. Durch meine Magie und seine Informationen konnten wir schon viele erfolgreiche Missionen verzeichnen. Was uns vor allem im Krieg einen Vorteil verschafft hatte, und ich war überzeugt, dass es dieses Mal genauso sein könnte. Vorausgesetzt, dass Azriel meine Hilfe überhaupt benötigte. Worauf ich hoffte. Wenn es nicht Hypern ist, würde ich mich auch mit der Menschenwelt zufrieden geben, da es mich genauso interessierte, was aus den sterblichen Königinnen geworden ist.
Auf der anderen Seite brannte ich darauf, einfach auf eigene Faust loszuziehen, jedoch war die beste Zeit, einen anderen Hof auszuspionieren, die finstere Nacht. Und das konnte ich mit meinen Panikattacken nicht riskieren.
Rhysands Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch.
„Der Winterhof wird wohl unser größtes Hindernis werden. Nachdem was Amarantha getan hat, wird es schwer, sie von unserer Sache zu überzeugen", überlegte Rhys. Ich blickte auf.
„Ja, das wird nicht leicht werden", sagte Cassian und nickte zustimmend.
„Wisst ihr etwas über Rowan?", fragte ich neugierig nach und wippte mit dem Bein.
Es wäre schade, aber nicht verwunderlich, wenn der Prinzvon Winterhofs bereits verheiratet ist. Obwohl er sich schon dagegen gewehrt hat, bevor ich ihn kennengelernt habe. Und wenn er nicht gerade seine Seelengefährtin gefunden hat, wird sich das auch nach zweihundert Jahren nicht geändert haben. Natürlich zu Ungunsten seines Vaters.
„So weit ich weiß, erfreut er sich bester Gesundheit", antwortete Rhys, seine Augen funkelten wissend.
Ich lächelte in mein Glas.
Cassian brummte etwas Unverständliches.
„Und so weit ich weiß, ist er immer noch Junggeselle", sagte Mor und zwinkerte mir zu. „Wir werden ihn wohl bei dem Treffen der High Lords antreffen, dann kannst du dir selbst ein Urteil über sein Wohlbefinden fällen. Vielleicht kannst du ihn sogar von unserer Sache überzeugen, er scheint ziemlich von dir angetan zu sein", fügte Rhys hinzu. Ich verdrehte die Augen.
„Das ist doch ewig her", erwiderte ich zweifelnd und dachte an den Prinzen des Winterhofs, der damals etwas mehr als nur ein Freund war. Rhysand schmunzelte und Mor sah auch nicht überzeugt aus, dass die Aufmerksamkeit des Prinzen nach all den Jahren verblasst ist.
Auch nach knapp zweihundert Jahren war die Erinnerung an ihn relativ frisch. Seine mittellangen, weißen Haare, die ihm immer wieder ins Gesicht fielen, und seine Augen, die wie grüne Eissplitter funkelten. Bei der großen Mutter, diese Augen. Ein kühler Schauer lief mir über den Rücken.
„Aber bitte, sei nicht zu verfüherisch, wir können es uns nicht leisten, noch mehr Blutrubine zu bekommen, nur weil du dem Prinzen den Kopf verdreht hast", brummte Cassian und sein Blick glitt kurz über mich. Ich konnte schwören, dass in seiner Stimme ein Hauch von Eifersucht mitschwang. Ich schmunzelte und nahm mein Weinglas in die Hand. „Hmm, ich weiß ja nicht. Die meisten Männer mögen es, wenn ich ihre Juwelen bewundere", erwiderte ich unschuldig und sah Cassian direkt in die Augen. Azriel verschluckte sich an seinem Wein und Mor lachte laut auf. Auf Cassians Lippen machte sich ein schelmisches Lächeln breit.Ich lehnte mich mit beiden Unterarmen auf den Tisch.
„Es wird schwierig werden, einen geeigneten Treffpunkt auszumachen, mit dem jeder einverstanden ist", sagte ich und ignorierte Cassians Versuche, meinen Blick einzufangen. Ich bin ihm immer wieder aus dem Weg gegangen, doch viel länger würde ich damit nicht durchkommen. Dafür war er zu hartnäckig. Aber diese kleine Stimme ließ einfach nicht locker.
„Den Frühlingshof und unseren Hof können wir schon mal ausschließen", überlegte Mor. »Kallias wird wohl ebenfalls nicht bereit sein, seine Türen für uns zu öffnen. Und der Sommerhof ist noch zu sehr mit den Reparaturen beschäftigt."
„Thesan hat bereits angeboten, das Treffen bei ihm abzuhalten. Seine allgemeine Zurückhaltung wird ihm jetzt wohl zum Vorteil", sagte Rhys. Cassian lehnte sich zurück und musterte mich. Ich versuchte, mich nicht von ihm ablenken zu lassen. „Zunächst müssen wir jedoch die Höfe von dieser Idee überzeugen. Nach Amarantha sind sie alle unsicher und misstrauisch, auch den anderen High Lords gegenüber", warf ich ein.
„Veena hat Recht. Auch wenn wir die Zustimmung der High Lords haben, ist nicht gesichert, ob es auch wirklich zu dem Treffen kommt, eben wegen dieser Zwietracht", sagte Cassian. Kurz herrschte Stille. Mor seufzte hörbar und lehnte sich mit ihrem fastleeren Weinglas zurück.
„Müssen wir das alles unbedingt einen Abend vor der Nacht der fallenden Sterne besprechen?" fragte sie müde.
„Jetzt, da Aviana wieder bei uns ist, ist diese Nacht viel bedeutender als zuvor. Und ich brauche meinen Schönheitsschlaf." Ich lächelte sie an. Die Nacht der fallenden Sterne. Ich wusste nicht einmal mehr, wann ich das Letzte Mal dabei war. Im Gefängnis jedoch wusste ich immer, wenn sie bevorstand. Es schmerzte immer sehr, am schönsten Abend des Jahres nicht bei ihnen zu sein, doch ich hatte mir immer vorgestellt, wie meine Freunde, meine Familie, im Licht der vorbeiziehenden Geister tanzten. In der Hoffnung, dass sie glücklich waren. Und morgen würde ich endlich wieder mit ihnen feiern können. Schon jetzt kribbelte mein Bauch vor Aufregung.
„Du brauchst doch wieder nur eine Ausrede, um dich bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen", sagte Cassian und grinste spitzbübisch. Mor warf ihm einen bösen Blick zu und schürzte die Lippen. Er bemerkte amüsiert, dass sie verärgert war, und lehnte sich vor. „Du freust dich schon Monate darauf, den Weinvorrat zu plündern und uns allen auf die Nerven zu gehen, weil du so betrunken bist, dass du nicht mal mehr gerade ausgehen kannst", reizte er sie weiter. Er hatte den Satz kaum beendet, als Mor bereits nach einem Stück Brot griff und es so schnell auf ihn schleuderte, dass es nur noch wie ein Schatten durch die Luft flog. Er fing es grinsend auf.
„Da hab ich wohl ins Schwarze getroffen", lachte er.
„Wir werden wohl bei allen High Lords unsere besten Überzeugungskünste zur Schau stellen müssen", warf Mor ein und ignorierte Cassian geflissentlich: „Den Winterhof und den Sommerhof hat es am Schlimmsten erwischt, der Frühlinghof ist zerstört und die restlichen Höfe...", sie seufzte wieder: „Hoffen wir mal, dass wir ihre Furcht vor dem König schmälern können, damit sie mit uns zusammenarbeiten."
"Zudem haben wir immer noch die Blutrubine von Tarquin, um die wir uns kümmern müssen, wenn wenigstens er uns vertrauen soll", fügte Feyre hinzu. „Auch wenn ich davon ausgehe, dass er uns dennoch unterstützen würde. Er ist ein junger High Lord, aber auch ein guter Mann."
„Das denke ich auch.", sagte Rhys und betrachtete Feyre so liebevoll, dass ich den Blick abwenden musste. Dann sah er zu mir.
„Vielleicht sind sie beruhigter, wenn sie sehen, dass Aviana wieder zurück ist", sagte Rhys. Ich sah ihn verwirrt an.
„Warum?" fragte ich.
»Nunja, du bist die letzte Samatarian, die Sonnenkriegerin. Zudem hast du jedem Hof bei verschiedenen Krisen ausgeholfen. Wenn sie jemandem vertrauen werden, dann dir", antwortete er. Ich überlegte kurz.
„Die Tatsache, dass ich zweihundert Jahre wie vom Erdboden verschluckt war und plötzlich vor einem Krieg wiederauftauche, wird Ihnen eher weniger gefallen. Dazu kommt noch, dass ich deine Halbschwester bin. Damit wäre meine Neutralität untergraben und sie würden mir nicht mehr vertrauen als den anderen", sagte ich kopfschüttelnd.
„Dann verschweigen wir den Teil, dass du meine Schwester bist", schlug Rhys vor, „fürs erste. Und wenn sie nach deinem Verschwinden fragen, lenken wir ihre Fragen auf etwas anderes. Du bist geschickt genug, um dir ihr Vertrauen neu zu verdienen, und kannst deutlich machen, dass du deine Neutralität bewahrt hast. "
Das wird wohl das Beste sein. Da ich die letzte Samarian bin, muss ich vor allem in dieser Zeit unabhängig bleiben. Uns steht ein Krieg bevor und unser Gegner ist uns weit überlegen. Daher ist es das Schlauste, meine Herkunft vorerst zu verheimlichen.
Was jedoch bedeutet, dass ich bei dem Treffen auf mich allein gestellt bin. Doch die High Lords zu überzeugen, in diesem Krieg mit uns zu kämpfen, hatte Priorität. Und ich bin schon mit komplizierteren Aufgaben zurecht gekommen.
Ich setzte mich etwas aufrechter hin und nickte schließlich.
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Das Reich der Sieben Höfe / Dunkelheit und Licht
FantastikNach Jahrhunderten in Dunkelheit, Verzweiflung und Einsamkeit, erblickt Aviana wieder das Licht der Welt. Ihr plötzliches auftauchen sorgt für Aufruhr im Inneren Kreis und reißt alte Wunden auf, die nie vollständig geheilt sind. Geheimnisse werden...