„Du hast Nesta gestern ja ziemlich hart ran genommen", ertönte eine gedämpfte Stimme hinter mir. Ich hatte meinen Dolch bereits gezogen, bevor ich erkannte, dass es Cassian war, der gerade hinter mir landete und auf mich zu kam. Dabei faltete er seine Flügel auf seinenRücken, die in der Sonne schimmerten, und seine Klauen an den Spitzen aufblitzen ließ und grinste. Seine breite Statur und seine Flügel ließen die breite Brücke mitten in Velaris kleiner erscheinen als sie eigentlich war.
Seine Haare hatte er zu einem Zopf zusammen gebunden, wie er es sonst beim Training immer tat.
Einige Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und ließen ihn nur noch attraktiver aussehen. Ich schnaubte. Er machte es mir wirklich nicht leicht.
Nach dem Essen ist Feyre Nesta hinterher gegangen, wahrscheinlich um sich für mein Verhalten zu entschuldigen. Rhysand war nicht besonders begeistert von meinem Ausbruch gewesen, doch er hatte mir keine weitere Standpauke gehalten.
Stattdessen hatte er sich die beschipste Mor über die Schulter geworfen und sie nach Hause gebracht, bevor sie noch von ihrem Stuhl fiel. Ich war davon überzeugt, dass Amren die Einzige war, die sich köstlich amüsiert hatte.
Jetzt war es einen Tag später und ihn zu sehen war das letzte was ich wollte.
„Willst du mir jetzt eine Standpauke halten?", fragte ich distanziert.
Er hob abwehrend beide Hände. „Oh nein, das würde ich niemals wagen", sagte er mit gespielter Ernsthaftigkeit. „Ich bin sogar davon überzeugt, dass alle anderen neidisch waren, weil sie gerne das Gleiche zu ihr gesagt hätten."
Ich konnte nicht verhindern, dass meine Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln zuckten.
"Irgendjemand musste sie doch in ihre Schranken weisen. Die anderen machen zwar bei dieser Schonungsnummer mit, Feyre zu Liebe, aber ich lasse mir das nicht gefallen", erwiderte ich. Ich spürte quasi, wie er eine Augenbraue hob.
„Feyre muss wohl ziemlich viel Überzeugungsarbeit leisten, um die Wogen zu glätten", sagte er belustigt. Ich ging nicht darauf ein und erwiderte kühl: „Warum sollte ich ihr respektlosem Verhalten mit Freundlichkeit begegnen? Ja, sie und Elain haben Schlimmes durchgemacht, aber das ist kein Grund, sich wie eine gereizte Giftschlange aufzuführen."
„So gehässig kenne ich dich gar nicht", bemerkte er spöttisch. Ich antwortete nicht.
Ich spürte seine Wärme, als er neben mich trat, doch ich zwang mich, weiter auf das Wasser zu schauen, welches in der Abendsonne glänzte.
Die Sonne würde bald untergehen, doch in Cassians Nähe fühlte ich mich sicher. Dieser kleinen Schwäche war ich mir durchaus bewusst. Aber ich hatte zu viel Angst davor, meinen einzigen sicheren Hafen zu verlieren, der mich vor meinen Panikattacken schützte. Was auch immer der Grund dafür sein mag, warum es bei Cassian weniger wurde beziehungsweise gar nicht vorkam: Ich werde mich nicht beschweren.
„Du hast mich ja ziemlich verteidigt, das hatte ich wirklich nicht erwartet. Ich fühle mich geschmeichelt", sagte er selbstgefällig. Ich verdrehte die Augen und drehte mich zu ihm um. Er war so nah, dass es mir kurz den Atem verschlug. Cassian schmunzelte, machte aber keine Anstalt, zurück zu weichen.
„Ich habe sie nicht nur deinetwegen so angefahren", stellte ich klar und sah ihm direkt in die Augen. Doch es war nur die halbe Wahrheit, denn Nestas Äußerung ihm gegenüber war der Auslöser gewesen, warum es etwas eskaliert ist. Doch das würde ich ihm sicher nicht offenbaren. Er kam näher und ich wich zurück, bis ich das Geländer im Rücken spürte. Meine Augen verengten sich verärgert.
"Cassian... ", warnte ich.
„Seit drei Tagen gehst du mir aus dem Weg, nachdem du mich zurückgewiesen hast, und dann verteidigst du mich plötzlich mit dem Temperament einer Königin." Seine Flügel raschelten leise. Ich klammerte mich am Geländer fest und starrte ihn an. „Ich habe nicht nur wegen dir so gehandelt", wiederholte ich und reckte das Kinn. Er stämmte seine Arme links und rechts neben mir auf das Geländer, sodass ich zwischen ihm gefangen war. Mein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich und ich war verärgert über die Reaktion, die er in mir auslöste. Wahrscheinlich hörte er es sogar.
„Schön zu sehen, dass ich dir doch nicht vollkommen egal bin", sagte er leise und bestätigte meine Vermutung.
„Du bist ein guter Freund, natürlich bist du mir nicht egal", sagte ich, bevor mir bewusst wurde, dass es vielleicht ein Fehler war. Ich habe ihn abgewiesen, damit er nicht zu sehr verletzt wird, wenn ich wegen des Handels sterbe. Doch wenn ich ihn immer noch als Freund bezeichne, würde es meine Entscheidung zunichte machen. Das musste ich sofort beheben. Ich muss ihn noch weiter von mir stoßen, das ist die einzige Möglichkeit.
Ich hatte überlegt, mich auch von den anderen zu distanzieren, doch das würde zu sehr auffallen. Sie würden sofort merken, dass etwas nicht stimmt. Daher war es besser, wenn auch sie glaubten, dass ich einfach das Interesse an Cassian verloren habe. So konnte ich zumindest ihn schützen.
Aber er machte es mir nicht gerade einfach.
Sein Duft hüllte mich ein und sein Gesicht schwebte so nah vor mir, dass ich mein Spiegelbild in seinen Augen erkennen konnte.
„Nur ein Freund, ja?", hackte er nach und seine Augen blitzten. Ich entschied, dass es besser war, den Mund zu halten.
„Dann war das zwischen uns nur Sex", sagte er leise. Es war keine Frage, eher eine Feststellung, doch er wartete trotzdem auf eine Bestätigung. Jetzt bot sich mir die Möglichkeit, meine Worte zurückzunehmen und mich auf ihn einzulassen, doch ich konnte einfach nicht. Ich habe schon so viele Bücher durchsucht und nichts gefunden, wie ich den Handel brechen oder verlangsamen konnte. Die Entscheidung, die ich in meiner Zelle getroffen habe, würde mich das Leben kosten. Es war besser für uns, wenn er aufgab. Egal, wie sehr mein Körper sich danach verzerrte. Er hatte etwas Besseres Verdient. Ich atmete ein.
„Es war nur Sex, Cassian. Nach zweihundert Jahren in einer Zelle wollte ich nur ein wenig Spaß haben. Es war nichts Besonderes." Mein Herz zog sich bei meinen eigenen Worten zusammen, doch ich gab nicht nach. Seine Augen verengten sich. Wenn meine Worte ihn verletzt hatten, zeigte er es nicht.
„Das glaube ich dir aber nicht, Veena", raunte er.
„Glaub, was du willst", sagte ich und zwang meine Stimme, so neutral wie möglich klingen zu lassen.
Ich befreite mich aus seinen Armen und wollte gehen, doch erhielt mich am Handgelenk zurück und zwang mich, mich wieder zu ihm zu drehen. Ehe ich mich versah, steifte sein Mund über meine Lippen. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Die Versuchung war groß, ihn einfach zu küssen und meine Probleme zu vergessen. Es wäre so einfach. So einfach.
Ichriss mich zusammen.
Ich zwang mich, so distanziert wie möglich zu klingen, und sah ihn entschlossen.
„Es war nur eine kurze Affäre, nichts weiter." Ein kurzer Ausdruck huschte über sein Gesicht, dann wich er zurück.
„Ich empfinde nichts für dich."
Er beugte sich vor und seine Augen funkelten.
„Das kann ich bestimmt ändern", erwiderte er mit rauer Stimme. Ich blinzelte überrascht.
Meine Gefühle waren ein reines Chaos.
Das Beste wäre wohl jetzt zu gehen, doch ich lehnte mich wieder an das Geländer, mit genug Abstand zu Cassian, und beobachtete das abendliche Treiben der Stadt.
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Das Reich der Sieben Höfe / Dunkelheit und Licht
FantasiaNach Jahrhunderten in Dunkelheit, Verzweiflung und Einsamkeit, erblickt Aviana wieder das Licht der Welt. Ihr plötzliches auftauchen sorgt für Aufruhr im Inneren Kreis und reißt alte Wunden auf, die nie vollständig geheilt sind. Geheimnisse werden...