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Abraham Lincoln war ein gutes Stück größer als Ben und sehr hager. Ein dichter Bart verdeckte einen Teil seines Gesichts, aber die schmunzelnden Mundwinkel waren trotzdem zu erkennen. Der Mann wirkte amüsiert, obwohl tiefe Sorgenfalten sich auf seiner Stirn abzeichneten. Der Präsident hatte beide Hände auf sein Revers gelegt und Ben überlegte, wie oft er diese Pose schon auf Fotos oder Zeichnungen gesehen hatte. Er richtete sich auf, trat auf den Präsidenten zu und gab ihm die Hand:

»Mister President, Sir. Es ist mir eine unvorstellbare Ehre.«

Lincoln deutete auf einen schmalen Sessel vor dem Kamin:

»Setzen sie sich, James. Ich darf sie doch James nennen?«

»Selbstverständlich, Sir.« Er ließ sich in dem gemütlichen Sessel sinken und der Präsident nahm ihm gegenüber Platz.

»James, ich habe schon eine Menge über sie gehört.«

Ben legte die Hände in den Schoß, dann auf die Lehne. Er verschränkte sie kurz vor der Brust und platzierte sie schließlich auf seinen Beinen. Plötzlich kamen ihm seine Arme vollkommen fehl am Platz vor:

»Vielen Dank, Sir. Mister Nicolay sagte mir, es wäre nicht nur Schlechtes dabei.«

»Das will ich wohl meinen, General. Sie haben meine Aufmerksamkeit erregt.«

»Tatsächlich, Sir?«

Lincoln legte die Fingerspitzen aneinander und sah Ben über seine Hände hinweg an:

»Ja, tatsächlich. Sie haben einen außerordentlich schnellen Aufstieg absolviert. General Grant hat mir berichtet, dass sie öfter ungestüm handeln und auch allzu gern ohne ausdrückliche Befehle.«

Genau wie bei Grant war Ben unfähig, einzuschätzen, ob er gerade eine Standpauke erhielt oder ob Lincoln ihn lobte. Die Vorstellung, dass der Präsident ihn ins Weiße Haus bestellte, um ihm die Leviten zu lesen, war doch recht unwahrscheinlich.

»Sir, ich habe nur versucht, das Richtige zu tun.«

Lincoln lächelte weiter und Ben erkannte, warum er immer als sehr charismatisch beschrieben wurde.

»James, wie sind sie auf die Idee gekommen, eine ganze Division zu einer Bajonettattacke zu führen?«

»Ich hatte keine Munition mehr, Sir.«

Lincoln brach in schallendes Gelächter aus:

»Eine wunderbare Antwort. Ich verstehe, warum General Grant wahre Lobeshymnen auf sie singt. Wussten sie, dass er sie als seinen Stellvertreter im Kommando der Potomac-Armee vorgeschlagen hat?«

Ben zuckte zusammen. In seiner Brust verkrampfte sich etwas und ein stechender Schmerz fuhr durch sein Herz. Er rieb sich über den schmerzenden Brustkorb:

»Er hat etwas in der Richtung angedeutet, Sir.«

Lincoln beugte sich vor und sein Gesicht zeigte noch einige Sorgenfalten mehr:

»James, ist alles in Ordnung?«

Die Schmerzen wurden stärker, aber Ben biss die Zähne zusammen;

»Ja, Mister President. Es ist alles in Ordnung.«

»Wunderbar. Leider wartet bereits der nächste Termin auf mich.«

Wieder verschwand der Schmerz in Bens Brustkorb innerhalb von Sekunden und ließ ein leichtes Kribbeln zurück. Beide Männer erhoben sich.

»Sie sind der Präsident, da hat man immer viel zu tun.«

1863 - Was würdest Du machen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt