2 - Laila der Artar

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Es dauerte nur wenige Tage, ehe mich erneut ein Brief von Roulon erreichte. In seiner fein säuberlichen Handschrift hatte er eine Adresse unweit des Gnomviertels notiert, die ich noch am selben Nachmittag aufsuchen sollte. Als ich dort wenig später ankam, erwartete mich der Monsterjäger bereits in einem versteckten Hauseingang. Wider erwarten ließ er mich nicht ein, sondern stapfte kommentarlos davon. Ich humpelte ihm sogleich hinterher, meine Frage, was wir eigentlich vorhatten, ignorierte er geflissentlich und auch sonst schien er nicht zu einem Gespräch aufgelegt. In einer engen Seitengasse passierten wir eine Gruppe alter Frauen, die an einem Holztisch über einem Rubikan-Spielbrett saßen. Roulon hob grüßend den Hut, aber die Gnominnen beachteten uns nicht. Das war auch gut so, denn der Monsterjäger machte sich gerade verbotenerweise daran, einen Kanaldeckel anzuheben und winkte mich näher, um ihm zur Hand zu gehen.

„Ist das nicht ein bisschen auffällig, hier in die Kanalisation zu steigen?", flüsterte ich und sah nervös zu den Frauen hinüber. Roulon folgte meinen Blick und zuckte achtlos mit den Schultern. „Ach was, die sind völlig in ihr Spiel vertieft. Hier interessiert es sowieso niemanden, was du tust. Wir sind den alten Schachteln doch völlig egal". Wie zum Beweis schlug eine der Frauen gehässig lachend auf den Tisch und die Figuren hüpften hinunter. Ihre Mitspielerinnen sammelten wütend die Einzelteile des Spielbretts ein, aber keine von ihnen beachtete uns.

„Siehst du", meinte der Gnom grinsend. „Wir könnten uns nackt ausziehen und vor ihnen herumtanzen und sie würden uns trotzdem nicht bemerken. Also los jetzt, steig endlich in das verdammte Loch!"

Ich tat wie mir geheißen und der Gnom folgte mir. Wir kletterten in einem schmalen Gang, der von Fackeln hell erleuchtet wurde. Es roch nach Fäkalien und das Plätschern der Wasserrinne zu unseren Füßen erfüllte den Raum mit einem gleichmäßigen Rauschen. Einige Kanalarbeiter drehten sich zu uns um, ihre Blicke waren matt und ausdruckslos. In mir regte sich Mitleid, als ich ihre abgerissene Kleidung sah und ich schenkte ihnen ein entschuldigendes Lächeln, aber Roulon schritt zügig voran, ohne sie weiter zu beachten. Der Weg vor uns schien endlos zu sein und es fiel mir schwer, auf den glitschigen Steinplatten mit dem Monsterjäger Schritt zu halten. Der Tunnel wurde allmählich dunkler, die Fackeln spärlicher. Als sich unerwartet ein Abgrund vor uns auftat, verlor ich den Halt und nur der schnelle Griff meines Begleiters bewahrte mich vor dem Sturz in die Tiefe. Als ich mich mit klopfendem Herzen vorbeugte, konnte ich den Boden unter uns nicht erkennen. Alles in mir wand sich, tiefer hinabzusteigen, doch ich zwang mich, die rostige Leiter hinunterzuklettern und betrat zum ersten Mal in meinem Leben die Untenwelt.

Etwas in der Finsternis zu erkennen war zwecklos, der Schein der Fackeln reichte nicht bis zu uns hinunter, doch der Gnom entzündete neben mir seine Laterne und winkte mich mit sich. Die Architektur wirkte hier kaum anders, als in der Kanalisation über uns, jedoch sah ich hin und wieder Pflanzen und Pilze aus den Steinfugen wachsen und alles wirkte leicht verwittert.

„Das hier ist strenggenommen eine Zwischenwelt, ein Polster zwischen Kanalisation und Katakomben", erklärte der Monsterjäger und die Lautstärke seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. „Keine Bange, hier bist du sicherer, als in ganz Colossus, glaub mir. Die Gänge sind zu eng für die Katakombenbewohner und zu unbekannt für die Kriminellen der Stadt. Die einzigen, denen wir hier begegnen werden, sind Spinnen und Ratten!".

Das beruhigte mich ein wenig, auch wenn ich trotzdem hin und wieder verstohlene Blicke zurückwarf, um sicherzugehen, dass uns auch wirklich niemand folgte. Bald darauf mündete der dunkle Gang in einen hohen Raum, in dem sich zahllose andere Wege kreuzten. Weit über uns erkannte ich Tageslicht, es erreichte uns jedoch nicht. Die Säulen der Halle wirkten gleichmäßig und obwohl sie alt und verfallen waren, war die einstige Schönheit der damaligen Welt hier noch immer spürbar. Feine Symbole an den Wänden und Reste abblätternder, bunter Wandbilder zeugten vom Reichtum längst vergangener Tage, auch wenn der Gestank der bräunlichen Wassermassen, die aus den unzähligen Rohren hinabflossen, das schöne Bild ein wenig verzerrte. Im Zentrum des Raumes entdeckte ich eine große, reglose Silhouet, in der Dunkelheit konnte ich jedoch nicht genau erkennen, worum es sich handelte. Ich keuchte, als der Schein von Roulons Lampe offenbarte, dass dort ein Skelett auf dem Boden lag, verdreht und entstellt und viel zu groß für ein Lebewesen von der Oberfläche. An den Knochen hingen noch Fleischfetzen und Sehnen herunter, der Kadaver musste also frisch sein. Mir wurde schlecht. „Roulon, was um Himmels Willen tun wir hier?", fragte ich und versuchte meine Panik zu unterdrücken. Was hatte diesem Geschöpf nur aufgelauert? Und noch viel wichtiger - War es noch hier?

Herr der KatakombenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt