6 - Tony

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An das sechste Treffen mit Roulon erinnere ich mich noch so genau, als wäre es gestern gewesen. Es sollte eine der bemerkenswertesten Erfahrungen meines Lebens werden, als ich endlich die einstige Partnerin Roulons traf, von der der Monsterjäger nie müde wurde, zu erzählen.

Immer wieder war die junge Frau namens Tony in seinen Geschichten aufgetaucht wie eine Naturgewalt, die ihrem ehemaligen Lehrer mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht und ebenso häufig gerettet hatte. Ich brannte darauf, die Monsterjägerin eines Tages persönlich kennenzulernen, doch niemals hätte ich mir erträumt, dass das so bald geschehen würde, auch wenn der Anlass ein trauriger war.

Eigentlich hatten wir kein weiteres Treffen vereinbart, doch nur kurze Zeit nach meinem letzten Besuch stand Roulon plötzlich im Morgengrauen vor meiner Tür. In Anbetracht der Tatsache, dass die Oberstadt streng bewacht wird, war die Verwirrung, die ich an den Tag legte, als ich noch im Schlafrock die Tür öffnete, durchaus angemessen. Ohne eine Einladung abzuwarten stiefelte der Gnom in mein Haus und unter den irritierten Blicken meiner Frau und unseres Personals drängte er mich dazu, mich anzukleiden und ihm schließlich durch die noch leeren Straßen der Oberstadt zu folgen. Ich tat ihm den Gefallen, im Wissen, dass mich ein Donnerwetter erwartete, wenn ich nach Hause zurückkehrte, aber wenn Roulon es so eilig hatte, musste etwas Bemerkenswertes geschehen sein, und das wollte ich um keinen Preis verpassen.

„Was genau haben wir denn nun eigentlich vor?", fragte ich, als wir wenig später durch die Straßen eilten und ich verzweifelt versuchte, zu dem Gnom aufzuschließen.

„Das erkläre ich dir später, lass uns erst mal von hier verschwinden", brummte er einsilbig. So schlecht gelaunt hatte ich ihn noch nie erlebt, er scheuchte mich erbarmungslos durch die noch schlafende Stadt. Durch einen versteckten Hintereingang betraten eines der Häuser in der Hauptstraße und fanden uns zwischen unzähligen Kleidungsstücken wieder, der Raum war so vollgestopft, dass man sich kaum bewegen konnte.

„Hier entlang", befahl Roulon und öffnete eine Falltür. Ich hatte kaum Zeit, mich umzusehen, glaubte aber, mich in einer Schneiderei zu befinden.

„Na los, wird's bald", seine Stimme klang barsch und ich beeilte mich, seiner Forderung nachzukommen. Was war nur mit ihm los? Seine Laune wurde von Minute zu Minute mieser.

In den Katakomben erwartete uns kurz darauf Laila. Wir kletterten wortlos auf ihren Rücken und Roulon trieb sie sogleich erbarmungslos an. Mit ihren vielen Beinen rannte sie so schnell über den Schutt, dass mir ganz schummerig wurde. Hilflos klammerte ich mich an ihrem Sattel fest, bis wir endlich den Grund der ersten Tiefenschicht erreichten, wo der Monsterjäger mich zu einer der gigantischen Säulen führte, die von fremdartigen Pflanzen umwachsen war. Eine in Stein gehauene Treppe führte an der Säulenwand hinab und wir kletterten hinunter.

Treppen sind meine natürlichen Feinde und Roulon nahm keine Rücksicht darauf, dass ich immer wieder abrutschte und schließlich sogar einen Gehstock verlor.

„Was zum Teufel ist denn eigentlich passiert?", fragte ich, inzwischen sichtlich verärgert, nachdem wir zahllose Stockwerke hinabgestiegen waren, ohne dass der Gnom auch nur ein einziges Wort der Erklärung zum Besten gegeben hatte. Meine Hüfte pochte schmerzhaft und ich setzte mich stöhnend auf die Stufen. Der Monsterjäger sah wohl endlich ein, dass er es ein wenig übertrieb. Er rieb sich die Schläfen und mit einem Mal wirkte er sehr alt. „Tut mir Leid, Leutnant. Ich bin nur etwas aufgebracht, das ist alles. Wir sind gleich da, also sollte ich wohl langsam erklären, was wir hier vorhaben... also pass auf! Sagt dir der Name Gulthart Heberich etwas?"

„Nie gehört!"

Roulon ließ sich seufzend neben mich fallen. „Wundert mich nicht... Naja, ist auch egal, der Trottel hat es geschafft, sich von einem Schwarm Fidiros vergiften zu lassen... Wir gehen zu seiner Beerdigung!"

Herr der KatakombenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt