20 - Die Geschütztürme

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Die Zeit an der Oberfläche war ganz offensichtlich ungemütlich gewesen und mir wurde bald klar, dass ich so einiges verpasst hatte. Nachdem ich aus den Katakomben zurückgekehrt und irgendwie auf ein Schlachtfeld geraten war und Roulon schließlich einsah, dass es keinen Sinn hatte, weitere Schimpftiraden auf mich herabregnen zu lassen, brachte er mich in seinen Unterschlupf und nach einiger Pflege auf den neuesten Stand der Dinge.

Acht Monate waren vergangen, seit ich Smarik auf dem Markt getroffen und mich auf ein Abenteuer in den tiefen Katakomben eingelassen hatte, und inzwischen hatte sich einiges verändert in meinem Heimatland: Die Unruhestifter aus den Kolonien, die schon seit Monaten ihr Unwesen trieben, hatten sich vor einiger Zeit mit all den anderen unzufriedenen Bürgern Vigolerias zusammengetan - ein kluger Schachzug, gab es doch so viele von ihnen! Ihre beiden Anführer, zwei Volksverräter namens Ragnar de Legarre und Basker der Erfinder, der früher Roulons Freund gewesen war, traten jetzt offen als Gesichter der Rebellion auf und wurden zum Entsetzen der vigolerischen Aristokratie vom Volk bejubelt. Zu lang war es unterdrückt worden, zu lang hatte man ihnen versprochen, ihr Gott würde sie schon eines Tages retten! Die Macht der königlichen Familie, einst das Symbol des göttlichen Weges, schmolz dahin, und nach einem Attentat auf den König, das Oberst Boyd Lamar nur gerade so hatte verhindern können, sowie zahllosen Anschlägen auf offener Straße, hatte sich das Blatt nun endgültig gewendet. Während ich voller Freude in den Katakomben herumgekrochen war, hatte der Bürgerkrieg das Land in Schutt und Asche gelegt und von Colossus war kaum noch etwas übrig. Gebäude explodierten und Soldaten, Priester und Händler wurden von Magiern und Widerständlern hinterrücks überfallen, was die kümmerliche Nahrungszufuhr in die Stadt restlos zum Versiegen brachte. Die Menschen litten Hunger und fielen übereinander her wie Tiere, nur um einen Bissen Brot zu ergattern. Die Zerstörung der Eisenstadt, deren unfreiwilliger Zeuge ich geworden war, bildete den bisherigen Höhepunkt der Unruhen und wenn ich Roulons Miene richtig interpretierte, war es noch lange nicht das Ende des Konflikts.

Als mein Mentor mir all dies mit einer wütenden und überaus erschöpfter Miene berichtete, kam ich mir vor wie die Hauptfigur eines schlechten Romans, ein Fremder, der in einer Welt gelandet ist, die völlig verrückt spielt.

Ich war zu müde, um Roulon die Frage zu stellen, warum er selbst nicht dem Fluch der Katakomben anheimgefallen war, nachdem er doch den Drachen hatte fortbringen wollen! Er ließ mich noch eine Weile lang in meinen Gedanken verweilen und brachte mich schließlich zurück in die Oberstadt, um die es ebenfalls nicht sonderlich gut bestellt war, auch wenn die große Mauer noch immer den Angriffen der Rebellen standhielt. Ich betete, dass niemals einer der Rebellen den Zugang zu den Katakomben finden mochte und erwog sogar, es meinem Vorgesetzten zu melden, doch ich wagte es nicht, aus Angst, für meine eigenen Vergehen bestraft zu werden.

Das Chaos in Vigoleria war so denkbar groß, dass selbst meine Familie mehr oder weniger vorbehaltlos meine Rückkehr akzeptierte und keine Fragen stellte, nicht einmal, als der Monsterjäger mich persönlich vor meiner Haustür absetzte. Das lag allerdings vor allem daran, dass sich ein Großteil meiner Familie nicht mehr in der Oberstadt aufhielt, sondern an der Front kämpfte. Mein Bruder war in den Süden abkommandiert worden, mein Schwiegersohn in Rival gefallen und mein Sohn bewachte die Mauern der Oberstadt. Den abgespannten Mienen meiner Frau und meiner Tochter nach zu urteilen hatten beide keine Kraft mehr, sich mit den Gründen meiner Wiederkehr zu beschäftigen und so begab ich mich in eine neue Normalität, die von Armut und Leid geprägt sein sollte.

Niemand wollte es sich eingestehen, doch die einst vorteilhafte Position des Soldatenviertels über dem eigentlichen Stadtkern isolierte uns auch zunehmend, und je länger dieser Zustand andauerte, desto mehr empfand ich meine Heimat als ein Gefängnis, das von Magiern und Rebellen umstellt wurde, die bislang vergeblich versuchten, die hohe Mauer zu stürmen.

Herr der KatakombenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt