22 - Bruch mit der Vergangenheit

2 1 0
                                    

Die Stadt versank nun restlos im Chaos, wir verloren jeglichen Zugang zu Nahrungsmitteln, Kohle und Waffen und selbst in der abgeriegelten Oberstadt wurden Kämpfe um Vorräte ausgefochten. Bei einem unglücklichen Zwischenfall in der Markthalle wurden drei Diebe vor versammelter Mannschaft erschossen. Sie hatten einen winzigen Laib Brot gestohlen, zwei von ihnen waren Kinder.

Mein Bruder fiel an der Front im weit entfernten Gravinth und meinen Sohn habe ich nie wiedergesehen, ich befürchte, dass auch er getötet wurde. Dumpfe Trauer begleitete uns nun tagtäglich, gemischt mit grässlicher Angst. Nach meinem letzten Ausflug hatte ich mich entschieden, die Stadt nun endgültig zu verlassen. Meine Frau hatte mich entsetzt angestarrt und war zurückgewichen, doch Diana, die inzwischen restlos alles verloren hatte, stellte sich auf meine Seite. „Was haben wir zu verlieren, Mutter? Hier gibt es nichts mehr für uns, genausogut können wir uns im Untergrund von Monstern fressen lassen", und damit begann sie, ihre Sachen zu packen. Sie hatte keine Ahnung, welch großen Glücksgefühle ihre Worte in mir auslösten und gemeinsam machten wir uns an die Vorbereitungen. Ich erzählte den beiden alles, was ich wusste, wir horteten die wenigen Vorräte die wir abgreifen konnten und Diana stahl aus der Akademie zwei Pistolen, als sie dort das Totenamulett ihres Mannes holte. Wir hatten unsere Vorbereitungen fast abgeschlossen, als eines Tages ein Bote mit einem verhängnisvollen Brief vor der Tür auftauchte, flankiert von Soldaten der Garde. Ich riss dem Mann das Dokument aus den Händen und noch während ich es las, und versuchte seinen Inhalt zu begreifen, wurde ich wegen Hochverrats als Komplize von Techtel dem Farbmischer festgenommen, der als Verräter enttarnt worden und aus der Oberstadt geflohen war. Mein gefälschtes Schreiben, mit dem ich ihn einst vor dem Gefängnis bewahrt hatte, sah man als Beweis für meinen Verrat, und obwohl ich inzwischen viel schrecklichere Dinge getan hatte, reichte es, um mein Leben zu zerstören.

Ich hatte keine Zeit mich von meiner Frau zu verabschieden, die Soldaten packten mich und nahmen mich ohne viele Worte mit sich. Ich schrie und wehrte mich, doch man verfrachtete mich wortlos in einen gepanzerten Wagen und fuhr mit mir davon.

Mit vor Panik bebenden Händen setzte ich mich auf den Boden des Fahrzeugs und versuchte, meine Gedanken zu ordnen, doch es gelang mir nicht. Wenn die Elitesoldaten Vigolerias eines ihrer wertvollen Fahrzeuge opferten, um mich zum Gefängnis zu bringen, konnte das nur eines bedeuten: Sie würden mich so lange foltern, bis ich ihnen verriet, was ich wusste – obwohl das nichts sein würde. Es war mein Todesurteil, und vielleicht hatte ich es ja verdient! Aber was nur sollte aus meiner Frau und meiner Tochter werden? Ich betete, dass die Soldaten nicht unser Haus durchsuchten. Wenn sie die Ausrüstung und die gehorteten Nahrungsmittel dort fanden, so würde es auch ihr Tod sein.

Meine Finger zitterten so sehr, dass ich keinen Halt fand, als der Wagen über ein Schlagloch fuhr und plötzlich aus der Spur geriet. Er schlingerte hin und her und in seinem Innern wurde ich herumgeschleudert wie ein Ball während eines DaCapo-Spiels. Das Fahrzeug überschlug sich und ich blieb schließlich benommen liegen. Stöhnend versuchte ich mich aufzurichten, wie durch ein Wunder hatte ich mich nicht verletzt. Die Wagentür wurde aufgerissen und die Silhouette die jetzt im grellen Licht der Sonne auftauchte, erhellte mein Gemüt bis in den hintersten Winkel.

„Roulon", keuchte ich und musste unter Tränen lachen. Der Gnom half mir auf die Füße und zog mich aus dem Wagen. „Los, wir haben wenig Zeit, steig auf, bevor man uns erwischt!"

Die brennenden Überreste des Wagens lagen auf der Straße verstreut und ich sah die leblosen Körper der Soldaten, die mich festgenommen hatten. Der Drache, den wir aus der Oberstadt geschleust hatten, hockte auf dem Dach des Wagens und blinzelte mich interessiert an. Er war deutlich gewachsen, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte und trug einen Sattel.

„Ich wollte schon immer auf einem Drachen reiten", gab der Monsterjäger zu, „deshalb habe ich beschlossen, Igos erst mal zu behalten. Wenn er zu groß wird, finde ich schon ein neues Zuhause für ihn". Er grinste verschmitzt, als er meinen ungläubigen Blick sah und schubste mich vorwärts.

„Los, los, los, da hinten kommen Soldaten, ich will nicht ins Gefängnis, da ist es kalt und nass und schmutzig!" drängte er mich und ich hob mich eilig in den Sattel.

Der Drache spreizte die Flügel, die zuletzt noch so winzig gewesen waren und nun die komplette Straße einnahmen, und stieß sich vom Boden ab, die Soldaten wurden von dem Luftdruck zur Seite geschleudert wie Puppen. In Windeseile waren wir hoch oben in der Luft und flogen den Wolken entgegen, doch ich konnte es nicht recht genießen.

„Meine Frau! Roulon, sie werden meine Frau dafür bestrafen", ich versuchte mich aus dem Geschirr zu befreien, doch der Monsterjäger griff beherzt nach mir und setzte mich zurück in den Sattel.

„Deiner Frau geht es gut, Tony kümmert sich um deine Familie, du kannst jetzt ohnehin nichts mehr für sie tun!"

Ich starrte auf die rasch kleiner werdende Oberstadt und blickte hilflos hinunter. An dem Unfallort versammelten sich die Soldaten und fuchtelten wild mit den Armen, doch ich beachtete sie kaum, denn der Anblick der Stadt unter uns, die sich im Krieg befand, zog all meine Aufmerksamkeit auf mich. Ich sah winzige Soldaten und winzige Rebellen, die sich gegenseitig die Köpfe einschlugen auf dem Dach einer Welt, die so gigantisch groß war, dass sie es nicht wagten, sie zu erkunden.

Ich schüttelte den Kopf und begriff plötzlich die Tragweite dieser Geschehnisse. Roulon sprach es deutlich aus, als er sagte: „Verabschiede dich von deiner Heimat. Du bist jetzt ein gesuchter Verbrecher und kannst nicht zurück. Deine Tage als Soldat sind vorbei. Du bist jetzt ein Monsterjäger!"

Herr der KatakombenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt