9 - Der Quallenhort

3 1 0
                                    

Man kann Roulon beim Besten Willen nicht vorwerfen, er hätte sich nicht bemüht, mir seine Welt näher zu bringen, doch als wir uns kennenlernten, war ich körperlich noch nicht vollständig genesen und so unternahmen wir anfangs nur wenige Ausflüge in die Katakomben und der Monsterjäger schilderte mir stattdessen eindrucksvoll die Abenteuer, die er in der Untenwelt erlebt hatte. Seine Berichte dienten jedoch weniger der Unterhaltung, sondern sollten mich auf das vorbereiten, was mich dort unten erwartete. Er schwadronierte von Drachen, seltenen Vögeln, Ratten, so groß wie Schiffe, und einmal war er tatsächlich einem Lebewesen begegnet, das keinen Kopf besaß.

Mit jedem Treffen und jeder Geschichte, die der Monsterjäger zum Besten gab, spürte ich, wie ich der Untenwelt näherkam und der Oberfläche weiter entglitt. Natürlich erledigte ich weiterhin meine Arbeit, küsste meine Frau zum Abschied, wenn ich das Haus verließ, traf mich mit meinen Kindern, meinem Bruder, meinen Freunden, und doch veränderte ich mich.

Auch meine Familie bemerkte das, und mein Sohn formulierte es sehr treffend, als er sagte: „Du wirkst wie jemand, der aufstehen und weggehen will". Damit hatte er recht, auch wenn er nicht wissen konnte, wo mich mein Weg hinführen sollte.

Die Familie Fiersmore gehört zu den treuesten Dienern der Königsfamilie, und meine Treffen mit Roulon hätten sie sicher nicht gebilligt, doch falls sie etwas ahnten, so sprach niemand je mein gelegentliches Verschwinden an, da es meine Stimmung aufhellte.

Selbst über Roulons damaligen Besuch hatte meine Frau nie ein Wort verloren. Ihr Verhalten kam mir wie ein stillschweigendes Abkommen vor, hielt ich mich bedeckt und tätigte meine Ausflüge im Geheimen, duldete sie mein Verhalten, das meine Laune merklich besserte und somit auch ihr Leben erleichterte.

Es vergingen einige Monate und ich könnte hier hunderte von Roulons Abenteuern niederschreiben, aber das würde den Rahmen dieser Aufzeichnungen sprengen und ich möchte meine Leser nicht mit allzu vielen Details langweilen. Wer sich für die Untenwelt interessiert, dem empfehle ich Roulons Katakombenlexikon zu lesen, welches er ständig durch neue Erkenntnisse erweitert. Es wandert von Hand zu Hand und wer weiß? Vielleicht gelangt es irgendwann auch in Ihren Besitz!

Eine Geschichte des Monsterjägers ist mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben, deshalb werde ich ihr diesen Eintrag widmen! Wir befanden uns ausnahmsweise mal wieder in der Taverne im Gnomviertel und hatten ein wunderbares Mahl genossen, dessen Ursprung ich Ihnen aber ersparen will, als Roulon schließlich zu einer weiteren Geschichte ansetzte. Henry, der Wirt, hatte sich zu uns gesellt und nach und nach bildete sich eine kleine Traube um unseren Tisch, wie immer, wenn der Monsterjäger in der Öffentlichkeit von seinen Abenteuern sprach.

„Vor sehr vielen Jahren", begann Roulon bedächtig und ließ den Blick über seine gespannte Zuhörerschaft wandern, „wagte ich den Abstieg in einen der südlich gelegenen Schächte, weit jenseits der Stadt. Ihr müsst wissen, dass es nicht nur die Tiefe ist, in der Vigolerias Katakomben unsicherer werden, sondern auch ihre Größe. Je weiter man sich stadtauswärts bewegt, desto größer wird die Gefahr, einem Lebewesen zu begegnen, das aus der Wildnis oder dem Ozean stammt. Versteht mich nicht falsch, die Katakomben sind gefährlich, mit allem, was dort unten alles kreucht und fleucht, aber die Wildnis ist ein ganz anderes Kaliber. Es macht schon einen gewaltigen Unterschied, ob man von einem wilden Raubtier gejagt , oder erst von einem wilden Raubtier gejagt und anschließend von einer Pflanze gefressen wird. Der Süden ist voll von Lebewesen, von denen wir nicht einmal erahnen können, was genau sie darstellen. Es gibt dort Kreaturen, die selbst mich in Angst und Schrecken versetzen!"

„Du warst wirklich dort? In der Wildnis?", hakte ich gebannt nach, auch die anderen Gnome wirkten beeindruckt. Natürlich kannte ich die Schauermärchen über diesen Ort - die Katakomben mochten als gefährlich gelten, die Wildnis im Süden hingegen mied jeder, der noch einen Funken Verstand bei sich hatte.

Herr der KatakombenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt