NEUNUNDZWANZIG

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!Trigger Warnung!
Jisung PoV:

Leise schluchzend sehe ich mit verschwommenem Blick auf meine blutverschmierten Hände hinunter. Ich habe es schon wieder getan, doch leider erzielt es langsam nicht mehr diesen befreienden Effekt. „Oh verdammt..." Heute ein weißes Shirt zu tragen war wohl nicht meine beste Idee. Das Blut von meinen Wunden zieht sich allmählich in den Stoff hinein, wodurch es schwer wird die Verletzungen richtig zu verstecken.

Mit Bedacht das Blut an meinen Fingern nicht überall zu verteilen, ziehe ich mir vorsichtig mein Oberteil über den Kopf und sehe auf die Wunden hinunter. Einige Stellen haben sich in den letzten Tagen bereits entzündet, aber der dadurch entstehende Schmerz ist mir eigentlich ziemlich egal. Er ist nichts im Vergleich zu meinem inneren Schmerz. Erst lässt Minho mich im Stich und jetzt wendet sich auch noch meine Mutter gegen mich. Nun bin ich wohl wirklich vollkommen allein.

Nach einem kurzen Zögern raffe ich mich allmählich von meinem Bett auf und schleiche mit einem frischen Shirt in der Hand leise im Flur die Treppe hinunter. Es sieht so aus, als wäre meine Mutter nicht da. Ich sollte den Moment nutzen und die Verletzungen wenigstens ein bisschen versorgen. Zumindest so, dass nicht meine ganze Kleidung voller Blut ist. Es reicht mir schon, dass Minho es herausgefunden hat. Bei ihm war es mir sogar egal, dass er es gesehen hat. Er durfte mein wahres Ich als einziger zu Gesicht bekommen, ohne dass es mir etwas ausgemacht hat.

Im Bad angekommen, will ich mein Shirt gerade auf dem Waschbeckenrand ablegen, als mein Blick auf das Handy meiner Mutter fällt. Sie hat eine neue Nachricht von jemandem, dessen Namen ich nicht kenne. Neugierig nehme ich das Handy zögerlich in die Hand und entsperre dieses schließlich. Sie benutzt noch nicht einmal ein Passwort.

Minik:
Ich stehe gerade im Stau. Ich komme deswegen wohl ein paar Minuten später. Hab dich lieb Schatz <3

Mit einem Mal zieht sich alles in mir zusammen. Meine Vermutung war also richtig. Sie hat mich wirklich belogen und Minho hat mir die Wahrheit erzählt. Sie hat hinter meinen Rücken tatsächlich einen neuen Freund. Leicht zitternd lese ich mir nach und nach den Chatverlauf durch, bis ich an einer gewissen Nachricht hängen bleibe.

Minik:
Darf ich fragen, ob du Kinder hast?

Mom:
Nein, ich habe keine und ich wollte auch nie welche. Sie sind mir viel zu anstrengend

Minik:
Dann sind wir wohl einer Meinung

Als hätte man einen Schalter in mir umgelegt, sacke ich langsam auf dem Badezimmerboden zusammen und halte das Handy fest umklammert, während mir erneut die Tränen in die Augen schießen. Sie wollte mich nie haben. Ich war ihr all die Jahre über nur ein Klotz am Bein. Ich habe mich so sehr bemüht sie stolz zu machen, doch das war alles umsonst. „Wieso?!" Wieso hasst sie mich? Wieso hassen mich alle? Was habe ich falsch gemacht? Was ist so schlimm an mir, dass nicht einmal ein verdammter Mörder etwas von mir wissen will? Nicht einmal Eomma hat mich lieb.

Übermannt von meinen Gefühlen schlage ich mir wiederholt mit der Faust fest auf den Oberschenkel, doch das lindert meinen Schmerz nicht im geringsten. Ich kann das nicht mehr. Ich halte dieses Gefühl nicht noch länger aus. „Ich will nicht mehr." Leise wimmernd greife ich mir mit den Händen in die Haare und ziehe verkrampft an diesen. Es soll endlich aufhören.

Sichtlich verzweifelt lasse ich meinen Blick suchend umherwandern, bis er schließlich an der Schranktür neben mir hängen bleibt. Hinter der Tür befindet sich unser Medizinkasten. Ich könnte... wenn ich das mache hört dieser Schmerz endlich auf und ich falle niemandem mehr zur Last. Minho hätte seine Ruhe, meine Mutter kann sich ungestört mit ihrem Freund treffen und ich finde dann vielleicht endlich meinen Frieden.

Ohne weiter zu zögern, reiße ich kurzerhand die Schranktür auf und ziehe den Kasten aus einem der Fächer heraus, bevor dieser mit einem Krachen vor mir zu Boden fällt und sich der gesamte Inhalt im Badezimmer verteilt. „Wo..?" Laut schluchzend taste ich meine Umgebung nach der kleinen Pappschachtel ab, bevor ich diese endlich zwischen meine Finger bekomme. Es dauert auch nicht lange und ich reiße die Verpackung kaputt, ehe ich die einzelnen Tabletten aus ihren Kapseln herausdrücke.

„Bitte.." Lass es funktionieren. Leise flehend stecke ich mir drei der Tabletten zwischen die Lippen in den Mund hinein, bevor ich mich mit zittrigen Beinen vom Boden erhebe und diese mit einem großen Schluck Wasser hinunterspüle. Und so werden aus anfangs drei Tabletten langsam sechs, acht, elf, bis ich irgendwann aufhöre sie zu zählen. Erst als die Packung leer ist, lasse ich mich erschöpft zurück auf den Boden fallen und starre geistesabwesend vor mich an die Wand.

Wird es jetzt ein Ende haben? Ist es nun alles endlich vorbei? Leicht lächelnd sehe ich langsam an mir hinunter und streiche behutsam über die allmählich verblassenden Knutschflecken auf meinem Bauch. Wenigstens war ich in der Nacht für einen kleinen Augenblick glücklich. Und vielleicht treffe ich Minho in einem anderen Leben wieder. In einem, in dem wir gemeinsam glücklich sein können. Und das nicht nur für einen kurzen Moment.

„Wieso dauert das so lange?" Leise stöhnend sehe ich kurz zu der leeren Verpackung Tabletten, bevor mein Blick zögerlich zur Badewanne hinüber wandert. Vielleicht sollte ich das Ganze ein bisschen beschleunigen, bevor noch irgendetwas dazwischen kommt. „Wieso rede ich überhaupt mit mir selbst?" Mühevoll erhebe ich mich erneut vom Boden und verschließe den Abfluss unserer Badewanne, bevor ich das Wasser einlasse. „Appa, bald bin ich bei dir."

In der Zeit, wo sich die Wanne allmählich mit Wasser füllt, lasse ich mich auf ihrem Rand nieder und ziehe mein Handy aus meiner Hosentasche heraus. Ich sollte Minho eine Nachricht hinterlassen. Er war trotz allem immer für mich da. Auch wenn er seine eigene Art hatte auf mich aufzupassen. Er hat sich wenigstens irgendwie um mich gesorgt. Ich war ihm nicht vollkommen egal.

Mit der Kamera auf mich gerichtet, überwinde ich mich kurz zu einem Lächeln, bevor ich nach kurzem Zögern anfange zu sprechen. „Hey Minho... wenn du das hier siehst bin ich wahrscheinlich nicht mehr da." Erneute Tränen rennen über meine Wangen. „Ich möchte mich nur noch einmal bei dir für alles bedanken. Ich weiß, das zwischen uns ist nie wirklich einfach gewesen, aber dennoch warst du immer für mich da. Es ist nicht deine Schuld, dass es so gekommen ist. Ich kann dieses Gefühl einfach nicht länger ertragen. Es tut mir leid. Aber wie versprochen nehme ich dein Geheimnis mit in mein Grab."

Bevor ich meine Meinung doch noch einmal ändere, lege ich das Handy schnell zur Seite und lasse mich danach in die Badewanne nieder. Ich atme noch einmal tief durch, ehe ich langsam mit dem Kopf unter Wasser gleite. Es war schön wenigstens einmal das Gefühl gehabt zu haben richtig geliebt zu werden.

Darkness // MinsungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt