Kapitel 1

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15.01.2006


„Geburtstag ist nur einmal im Jahr", gab Alex schulterzuckend von sich, legte ein großzügiges Stück Schokotorte auf ihren Teller und brach damit ihren Jahresvorsatz nach zwei Wochen. Aber wer hätte vorhersehen können, dass wir an Dads Geburtstag nach Port Angels fahren und dort Torte essen würden? In unserem Stammcafé, in das wir zu jedem wichtigen Anlass fuhren.

Schmunzelnd tat ich es meiner Schwester gleich und seufzte auf, als das Stück der Torte auf meiner Zunge zerging. Der Schokoladenmousse zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht.

Das direkt wieder verschwand und dem Trübsal Platz gab. Während Alex seit Anfang des Jahres auf kalorienreiches Essen verzichtet hatte, so hatte auch ich eine Diät gemacht – nicht freiwillig und nicht auf Lebensmittel bezogen. Wobei, es war mehr ein Entzug, als eine Fastenzeit, gewesen. Ich litt unter Jared Cameron Mangel und da konnte selbst die beste Schokotorte Washingtons nichts ausgleichen. Und der Entzug hielt schon länger als nur zwei Wochen.

Am 23. Dezember 2005, der letzte Schultag vor den Winterferien, hatte ich ihm zuletzt gesehen. Mit einer einwöchigen Entbehrung seinerseits hatte ich gerechnet. Aber spätestens zum Neujahrsfest am Strand, hatte ich es fest eingeplant ihn zu sehen, doch war er nicht dagewesen. Und zum Schulanfang kam er auch nicht. Er war verschwunden und keiner wusste, wo er steckte.

Es gab Gerüchte. Darüber, dass er mit einer Mitschülerin von zu Hause abgehauen sei, sich einer Motorradgang angeschlossen hatte oder mit Drogen vollgepumpt auf den Straßen Seattles liegen würde. Aber doch nicht er.

Jared mit dem lieblichsten Lächeln der ganzen Welt würde sich niemals mit Rauschmitteln zuballern. Oder von zu Hause abhauen. Nein, es musste eine andere Erklärung dafür geben. Vielleicht stimmte es ja und er hütete das Bett, weil er pfeiffersches Drüsenfieber hatte - wobei ich dann nicht wissen wollte, von wem er das haben konnte. Die Sorge um ihm trieb mich fast in den Wahnsinn und war, neben einer Gleichgültigkeit dem Rest gegenüber, das wenige, was ich noch fühlen konnte. Meine Augenringe waren so tief wie nie und es war, als ob mir Eisschollen durch die Adern trieben. Das schlimmste Gerücht lautete, dass ein Serienmörder durch die Wälder streifte, denn Jared war nicht der Einzige, der verschwunden war. Von Paul Lahote und Caitlyn Johnson fehlte ebenfalls jede Spur.

Meinen persönlichen Neujahrsvorsatz hatte ich längst aufgegeben. Jetzt lautete er Jared wenigstens noch einmal wiederzusehen.

„Ach? Dann darf ich für dich ab morgen wieder mitkochen?", fragte Mom mit hochgezogener Braue. Sie und mein Dad waren beide kein Fan von Alex allhalbjährlicher Diät – insbesondere deshalb, weil sie es nicht einmal nötig hatte. Sie war Cheerleaderin unserer Footballmannschaft und eine echte Sportskanone.

Alex war dabei ihr großes Schokostück herunterzuschlucken, um zu widersprechen, als Mom hinterhältig hinzufügte: „Ich wollte Lasagne machen."

Jetzt hatte sie ihre Tochter am Hacken – die Lasagne von Mom war in La Push bekannt und da konnte keiner widerstehen. Dad und ich schoben uns schnell ein weiteres Stück rein, um den Manipulationsversuch von Mom nicht durch unfreiwilliges Kichern zu unterbrechen.

Ergebens stöhnte Alex auf. „Na gut. Dann geh ich heute Abend wohl noch joggen. Hab ich eh ziemlich schweifen lassen."

„Hmh!", gab Dad protestierende Geräusche von sich und hielt den Finger hoch.

Fragend wurde er von uns anderen angeschaut, eh er sich an seiner eigenen Geburtstagstorte verschluckte und hustend nach Luft rang. Mom klopfte ihm routiniert auf den Rücken. Ich reichte ihm ein Glas Wasser. Das kam öfters vor, als man meinen wollte. Es dauerte etwas, bis er sich anständig artikulieren konnte. Alex hatte ihre Aufmerksamkeit schon längst wieder dem Kuchen gewidmet.

„Du gehst auf keinen Fall laufen!"

Ungläubig sah sie auf. „Wie bitte?"

„Zurzeit sind Wildtiere im Wald unterwegs. Ihr habt doch von Emily Young gehört. Ich möchte nicht, dass einer von euch beiden mit einem Verband im Gesicht rumläuft. Oder noch schlimmeres."

Die Schokolade blieb mir im Halse stecken. Jeder hatte mitbekommen, was Emily passiert war. Sie wurde vor wenigen Wochen von einem Bären angegriffen. Mom war ihr vor einigen Tagen erst begegnet und hatte uns erzählt, dass der Verband ihr halbes Gesicht einnahm. Dass sie noch sehen konnte, soll ein Wunder gewesen sein. Die Sorge um Jared schoss mir erneut durch den Kopf.

„Du kannst mir das Laufen nicht verbieten!" Die Gabel landete mit einem Klirren auf dem Teller und unterbrach meine aufkeimende, nur allzu bildliche Vorstellung, wie Jareds zerfetzte Leiche auf dreckigen Boden lag.

Alex Wut war für mich nachvollziehbar. Sie liebte das Laufen, insbesondere im Wald. Ich konnte dem zwar nichts abgewinnen, aber wenn man mir verbieten würde, meiner Leidenschaft nachzugehen, wäre ich sauer, enttäuscht und niedergeschlagen - wobei, ich musste mich korrigieren. Ich fühlte es selbst. Und das seit dem 23. Dezember.

„Alex-Schatz, bitte. Nicht so laut, wir sind nicht zu Hause", flüsterte Mom und legte eine Hand auf die ihrer ältesten Tochter.

„Mom!", rief Alex empört.

„Dein Dad meint es doch nur gut."

„Ist mir egal, wie er es meint! Ich muss laufen! Denkt doch mal an mein Stipendium!" Alex wurde immer lauter und ich sah, wie sich einzelne Gäste zu uns umdrehten. Das Café war wie immer gut besucht. Mit seinem einzigartigen Flair war das kein Wunder. Es war das einzige Literatur-Café ganz Port Angels. Mehrere Bücherschränke zierten die Wände und nicht selten fanden abends Events statt, zu denen unsere Eltern gerne gingen.

Dad nahm einen tiefen Atemzug und bevor er seine Stimme erhob, grätschte ich dazwischen. „Der Strand."

Drei vertraute Augenpaare sahen mich an. „Am Strand wurden doch noch nie Tiere gesehen. Da wäre es sicher."

Alex Augen fingen an zu glänzen und sie nickte bestätigend. „Damit ist es entschieden. Der Strand ist sicher, da gehe ich Laufen, bis sich das im Wald beruhigt hat. Danke, Kimmy." Sie lächelte mich herzlich an und legte uns allen ein neues Stück Torte auf die Teller.

Unsere Eltern sahen sich seufzend an und schüttelten Ergebens den Kopf.

„Wie schaut es eigentlich in der Schule aus? Sind die Austauschschüler schon da?", fragte Mom und lenkte das Thema auf sicheres Terrain. Als Alex und ich nur mit einem Nicken antworteten, seufzte sie frustriert auf. „Euch muss man aber auch alles aus den Nasen ziehen."

„Was willst du denn hören?", fragte Alex stirnrunzelnd.

„Na, zum Beispiel ob sie nett sind? Ob ihr jemanden näher kennen gelernt habt? Keine Ahnung, lasst uns doch einfach ein wenig an eurem Leben teil haben."

„Die Austauschschüler haben nichts mit meinem Leben zu tun und mit Kims sicher auch nicht", antwortete Alex mit hochgezogener Braue.

„Nicht?", fragte sie nach und sah mich an.

Ich schüttelte den Kopf.

„Wie schade. Ich habe dadurch damals eine ganz tolle Freundin kennengelernt. Wir haben erst vor wenigen Tagen telefoniert und-"

„Mom", wurde sie von uns beiden unterbrochen, während Dad vergebens versuchte, einen Schokofleck von seinem Hemd zu wischen.

„Was denn?" Verwundert blickte sie uns an.

„Wir kennen die Story von dir und Tante Elodie."

Mom plusterte ihre Wangen auf. „Na und? Lasst mich doch in Erinnerung schwelgen!"

„Ich dachte, du willst was von unserem Leben hören."

„Will ich doch auch! Aber ihr rückt ja nicht mit der Sprache raus."

Dad gab seinen Versuch auf und nahm einen Schluck Wasser und ich sah es kommen, eh es passierte.

Mom zwinkerte uns zu. „Wie schaut es denn mit Jungs aus?"

Das Wasser spritzte aus Dads Mund, wie aus einem Springbrunnen und abermals fing er an zu husten. Erneut klopfte Mom ihm auf die Schulter, während sie den Kopf schüttelte. Alex verzog angewidert das Gesicht und ich wischte einzelne Tropfen mit meiner Servierte weg.

„Mensch, Manteo. Die Mädchen sind fünfzehn."

„Erinnere mich nicht daran", brummte er, als er der Hustanfall angeklungen war. „Ich habe ein interessantes Buch gefunden", versuchte er das Thema ungalant zu wechseln und ich ging liebend gern drauf ein.
Da es der Geburtstag von Dad war, hatte er die Kontrolle über das Autoradio und so durften wir uns 1 ½ Stunden Musik aus den 70ern anhören, während es zurück nach Hause ging. Ich sah aus dem Fenster und beobachtete, wie der Lake Crescent still vor uns lag – immer mit der Angst im Nacken, eine bestimmte Leiche dort treiben zu sehen – als Alex aus heiterem Himmel anfing zu kreischen.

„Was ist los?!", rief Dad mit einem Blick in den Rückspiegel und schien kurz davor zu sein eine Vollbremsung hinzubrettern. Alex starrte auf ihr Handy, zappelte wild vor sich her und Mom stellte die Musik leiser.

„Oh. Mein. Gott! Ihr werdet es kaum glauben!" Sie grinste von einem Ohr zum anderen und schaute sie von ihrem Nokia hoch. „Paul Lahote und Jared Cameron wurden so eben am Strand gesehen!"

„Alexandra!", riefen die aufgebrachten Stimmen unserer Eltern durch das Auto.

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His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt