Kapitel 8

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Nachdem Mrs Miller uns unsere Partner zugeteilt hatte, war die Stunde auch schon vorbei. Tadi stellte sich zu Jared und wollte mit ihm einen Termin ausmachen. In dem Moment wuchs die Ungewissheit in mir, ob ich auf ihn warten sollte oder nicht. Gestern hatten wir die Pause miteinander verbracht, aber galt das heute noch? Um in kein Fettnäpfchen zu treten, packte ich meine Tasche so langsam wie selten zuvor. Unsere Lehrerin war noch im Raum und ich nutzte die Gelegenheit, mit hochrotem Kopf nachzufragen, welches Gedicht wir bekommen hatten. Auf Paul wollte ich mich in dieser Angelegenheit nicht verlassen. Schnell kritzelte ich den Namen auf meinen Handrücken und hörte, wie Tadi sich von Jared verabschiedete.

Unsicher wandte ich mich meinem Schwarm zu. Er sah mich mit seinem typischen Jared-Grinsen an – einem indem sich seine Grübchen offenbarten – und brachte mein Herz erneut aus dem Takt. Das Grinsen war mir allein gewidmet. Er deutete mir mit ihm zu gehen und das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Paul schloss sich uns an und ich war dankbar für dessen Anwesenheit, denn erneut traute ich mich nicht, den Mund aufzumachen. Meinen Neujahrsvorsatz sollte ich in die Tonne kloppen.

Dagegen konnte Paul gar nicht aufhören sich über Mrs Miller aufzuregen. Lautstark beschwerte er sich darüber, dass er nach der Schule nie im Leben Gedichtanalysen gebrauchen würde.Die Schlange zur Essensausgabe war lang und zwischen Paul und Jared kam ich mir sehr klein vor. Dabei war ich mit meinen 5'7 schon deutlich über dem Durchschnitt einer Amerikanerin.

„Jetzt halt doch mal die Klappe, Paul", brummte Jared, obwohl er ebenfalls nicht begeistert von der Aufgabe zu sein schien.

„Hä? Wieso das denn?" Fragend sah Paul zu seinem Freund, bevor sein Blick kurzzeitig zu mir schwankte und sich dann ein Feixen auf seinem Gesicht ausbreitete. Er lachte und klopfte Jared auf den Rücken. „Tja, kannst nicht immer Glück haben, was?"

Angesprochener ließ den Kopf hängen und ich meinte ein leises Knurren zu hören. Ich verstand Pauls Anspielung nicht, aber sie schien Jared nicht gefallen zu haben.

„Reg dich ab." Paul klopfte erneut auf dem Rücken seines Freundes und wandte sich dann mir zu. „Wir beide machen den Mist dann bei Sam."

„Bei Sam?"

„Ja, Sam Uley. Der war am Sonntag auch am Strand. Kennst ihn oder?"

Vage zuckte ich mit den Schultern. Kennen war übertrieben. Im Endeffekt hatte man jeden Bewohner La Pushs schon mehrfach gesehen und etwas über einen gehört, aber Sam war nicht in meiner Altersklasse. Nicht mal mit Gleichaltrigen hatte ich viel Kontakt. Somit war es nicht verwunderlich, dass ich mit Sam Uley nichts zu tun hatte. Dass ich ihn am Sonntag in der Abenddämmerung überhaupt erkannt hatte, glich einem Wunder.

„Dann ist es beschlossene Sache. Donnerstag bei Sam."

„Paul!" Jared hatte sich wieder aufgerichtet und starrte mit zusammengekniffenen Brauen zu seinem Freund. „Frag Kim erstmal ob sie überhaupt Zeit hat. Vielleicht kann sie da gar nicht."

Paul rollte mit den Augen und sagte anschließend mit sarkastischer Stimme: „Kim. Hast du übermorgen Zeit um mit mir, bei Sam, diese wundervolle Gedichtanalyse anzufangen?"

„Äh, ja klar", antwortete ich und war überrascht, dass Paul auf Jareds Anweisung hin tatsächlich nachgefragt hatte. Das hatte ich ihm nicht zugetraut und ich war über die Freundschaft der beiden weiterhin verwundert. Er war mir nie wie jemand vorgekommen, der auf andere hörte oder gar Gefallen tat.

„He, Siehste, Jared. Kim hat Zeit."

Natürlich hatte ich die. Mir fehlten die Freunde, um mit jemanden etwas zu unternehmen, und außerschulischen Aktivitäten ging ich nicht nach. Wenn ich nicht meiner Jared-Obsession nachkam, las ich Bücher, lernte oder machte Spaziergänge im Wald – die mir zur Zeit von Dad untersagt waren.

Wir zahlten unser Mittagessen – heute gab es Curry – und gingen geschlossen zu einem Tisch, von dem man mühelos einen Ausblick aus den Fenstern hatte. An unserer Schule herrschten klare Sitzordnungen. Es gab zum Beispiel den Tisch der Cheerleader, der direkt neben dem der Footballer war. Weit davon entfernt war der vom Schachclub oder dem der Außenseiter – am Letzteren hatten wir gestern gesessen. Ich wusste nicht, welche Gruppe sich hier normalerweise aufhielt, aber als ich nach Paul und Jared an dem Tisch am Fenster ankam, war er leer und bot uns genügend Platz. Locker hätten sich noch mehr dazu setzen können.

Dieses Mal fiel es mir etwas leichter, in der Gegenwart der beiden Essen zu mir zu nehmen. Wenn auch nicht so, dass ich mich völlig entspannte. Aber ich verbuchte es als Fortschritt.

„Sag mal, Kim", sprach mich Jared an, der sich neben mich gesetzt hatte. Seine Wärme war so stark, dass sie sich auf mich übertrug. Augenblicklich spannte ich mich an. Paul indes beschwerte sich über die Schärfe des Essens.

„Hmh?"

„Was machst du eigentlich gerne? Also in deiner Freizeit?" Seine braunen Augen waren interessiert auf mich gerichtet und das Denken fiel mir schwer.

Mit meiner Zunge fuhr ich mir über die plötzlich trockenen Lippen. „Lesen."

„Und was liest du?"

„Bücher."

Oh. Mein. Gott. Das hatte ich nicht ernsthaft gesagt! Bücher! Na was denn sonst?! Magazine? Zeitung?! Er wollte wissen, welches Genre, Kim! Nicht worin ich las! Kein Mensch würde das fragen! Wo war das nächste schwarze Loch, in das ich versinken konnte? Die altbekannte Hitze hatte sich in mir ausgebreitet und ich versteckte mich hinter meinen Haarvorhang. Vielleicht hatte Jared mich nicht gehört.

Ich wurde Besseren belehrt, denn er gluckste leicht vor sich hin. Unter anderen Umständen hätte ich das Geräusch genossen.

„Und was für Bücher?", fragte er und ich hörte deutlich das Lachen in seiner Stimme.

Tränen stiegen in mir hoch und ich versank auf meinem Stuhl. Ich war wirklich dämlich. Nicht mal normalen Smalltalk konnte ich mit ihm führen, ohne mich bloßzustellen. Jetzt musste er mich für minderbemittelt halten und lachte mich aus.

Das Quietschen eines Stuhls, welcher über den Boden geschoben wurde, war zu hören.

„H-hey, nicht weinen. Kim?"

Wie konnte er durch den Haarvorhang sehen, dass ich heulte? Meine Finger verkrampften auf meinen Schoß.

„Kim?"

Er war nah an mir und seine Körperwärme konnte ich nicht mehr ignorieren. Sie übertrug sich auf mich und erschwerte mir das Denken nur noch weiter. Der Waldgeruch, der mich dank seiner Jacke seit gestern begleitete, verstärkte sich.

„Bitte weine nicht." Ich bildete mir sogar ein, wie seine Stimme zitterte.

Plötzlich wurden meine Strähnen beiseitegeschoben und ich blickte geradewegs in das ungewöhnlich blasse Gesicht Jareds. Er war mir so nah, dass ich sogar seinen heißen Atem auf meiner Haut spürte. Augenblicklich hielt ich den meinen an.

„Es tut mir leid", wisperte er und sah bedrückt aus.

Ich verstand nicht, weshalb er sich entschuldigte, schließlich war ich es gewesen, die ihm nicht vernünftig geantwortet hatte.

Seine Hand wanderte zu meinem Gesicht, umschloss es und wischte eine Träne beiseite. „Erklärst du mir, was ich Falsches getan habe?"

Leicht schüttelte ich den Kopf und genoss den Körperkontakt. Er hatte nichts verkehrt gemacht. Ich war diejenige, die kein normales Gespräch führen konnte.

Er zog seine Brauen weiter zusammen und presste die Lippen aufeinander. Mein Jared-Lexikon meldete sich und ordnete seinen Gesichtsausdruck als unzufrieden ein. Es zerbrach mir das Herz, dass ich an seinen Gefühlen die Schuld trug.

„Ich-", mir brach die Stimme weg und ich versuchte es erneut, „Ich lese Fantasie- und ähm Liebesromane", nuschelte ich am Ende und schniefte leicht. Schnupfen und Weinen war keine schöne Kombi.

Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. „Fantasie also. Und was für welche?"

Wieso nur wollte er das so genau wissen? Es war mir schon peinlich genug, zuzugeben, was ich las. Aber ich konnte doch unmöglich ins Detail gehen. Am Ende dachte er, ich würde mich vor der Realität verstecken – was ich auch tat, aber das brauchte er nicht zu wissen. Andererseits konnte ich ihn auch nicht ignorieren.

„Du magst Wölfe oder?"

Überrascht blinzelte ich. Offenbar hatte ich zu lange mit einer Antwort gebraucht. Er löste seine Hand von meinem Gesicht und strich mir den Haarvorhang hinter die Ohren.

„Ja, woher weißt du das?"

Jared zog sich von mir zurück und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich hab die Sticker in deinen Spind gesehen."

Ich wusste nichts darauf zu antworten und starrte stattdessen weiter zu Jared, der mich anlächelte. Wann hatte er denn in meinen Spind gesehen? Heute Morgen hatte er sich doch die ganze Zeit mit Alex unterhalten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass seine Aufmerksamkeit dabei auf mir gelegen haben konnte.

„Wölfe sind cool, nicht wahr Kim?", unterbrach Paul die Stille und zwinkerte mir zu. „Manchmal erzählt Billy Black am Lagerfeuer unsere Legenden. Warst du schon mal dabei?"

„Bisher noch nicht, nein."


Zu den meisten Festen in La Push gehörte das Lagerfeuer dazu. Billy Black war ein Teil des Ältesten-Rats der Quileute und war bekannt dafür, dass er die Legenden unseres Stammes bildlich nacherzählen konnte. Ich mied gesellschaftliche Anlässe, weil ich mich dort nur unwohl fühlte. Das letzte Mal, als ich mir jemand die Geschichten unserer Vorfahren erzählte, musste ich ein Kind gewesen sein.

„Nächstes Mal kommst du mit", beschloss Paul und irgendwie freute ich mich darauf.



His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt