Kapitel 6

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Über meine Cola hinweg beobachtete ich, wie Paul ruhiger wurde und schließlich weiter aß.

„Isst du nichts mehr?", fragte Jared mich und sah mit gerunzelter Stirn zu meinem Teller.

Seit die beiden sich zu uns gesetzt hatten, hatte ich nichts mehr zu mir genommen. Das hätte ich gar nicht gekonnt – hätte doch nur in einem erneuen Hustanfall geendet! Leicht schüttelte ich den Kopf und die nur allzubekannte Unsicherheit kam in mir auf. Unbewusst hatte Alex mir Stärke verliehen, die mir mit ihrem Abgang wieder verloren gegangen war. Die Momente, in denen ich mich getraut hatte zu sprechen, kamen mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Um Jareds kritischen Blick zu entgehen, versteckte ich mich hinter meinen Haarvorhang und hörte dabei zu, wie die beiden ihre Teller leerten.

Schweigen machte sich zwischen uns breit, aber ich empfang es nicht als unangenehm. Ganz im Gegenteil. Die Jungs waren mit ihrem Essen beschäftigt und ich konnte ganz in Ruhe meinem merkwürdigen Hobby nachgehen. Jared Beobachten. Dieses Mal sogar von Nahem! Gott, wenn Jared wüsste, dass ich ihn beobachte, würde er den Tisch augenblicklich verlassen. So aber bewunderte ich zwischen meinen Haarsträhnen, was für tolle Tischmanieren er an den Tag legte. Er aß deutlich langsamer, als sein Freund und schmatze im Gegensatz nicht. Über die Menge, die sie verdrückten, war ich beeindruckt. Manchmal sah er zu mir und brachte mein Herz dazu, heftig zu schlagen.

Neugierde machte sich in mir breit, als ich die beiden nebeneinander sah. Letztes Jahr waren sie nicht befreundet gewesen. Sie hatten beide unterschiedliche Freundeskreise. Was in den drei Wochen wohl vorgefallen war, dass sie jetzt kaum zu trennen waren? Nur allzu gern hätte ich dazu Antworten erhalten. Dass sie Drogenkumpanen waren, glaube ich, im Gegensatz zu meiner Schwester, nicht.

Die ungewohnte Freundschaft war nicht das Einzige, was mir an dem Tag seltsam vorkam. Ich hatte gedacht, dass Jared sich wegen Schuldgefühlen zu mir an den Tisch gesetzt hatte. Vielleicht auch aus echtem Interesse und Sorge, um zu erfahren, ob es mir wieder besser ging. Umso verständnisloser war ich, als er und Paul nach der Pause gemeinsam mit mir aufstanden und mich zu meinem nächsten Kurs begleiteten.

Vor dem Klassenraum blieben sie stehen und Jared hielt mich zurück, bevor ich eintreten konnte.

Stumm sah ich zu ihm auf. Einige Schüler gingen an uns vorbei und schenkten uns Blicke, die meinen verwirrten Gefühlen nahekamen. Paul lehnte, etwas von uns entfernt, an einer Wand und starrte Löcher in die Luft.

Jared kratzte sich am Hinterkopf, ließ seine Augen weiter auf mir ruhen und schien unsere Mitschüler nicht zu bemerken. „Also", er räusperte sich. „War schön mit dir ... ähm ... die Pause verbracht zu haben."

„F-Fand ich auch", sagte ich und verfluchte meine leise Stimme. Ob er mich trotz des Lärms gehört hat?

Er lächelte und brachte mein Herz aus dem Takt. Hatte ich ihn etwa zum Lächeln gebracht?
„Dann sehen wir uns nachher, ja?"

Überfordert nickte ich bloß und hatte in dem Moment gar nicht verstanden, was er damit meinte. Er hätte mich alles fragen können und ich hätte ihm zugestimmt.

„Okay, gut", er nahm einen tiefen Atemzug, „pass auf dich auf. Bis später."

„Bis später", hauchte ich ihm hinterher.


Was er damit meinte, erfuhr ich nach der Schulstunde, denn er und Paul begleiteten mich erneut von einem Klassenzimmer zum nächsten. Den Sinn dahinter verstand ich nicht – egal, wie sehr ich in den Unterrichtsstunden darüber nachdachte. Zum Leidwesen meiner mündlichen Mitarbeit, die schon ohne Grübeleien am Tiefpunkt waren.

Als es zum Ende des Schultages gongte und ich das Zimmer verließ, fuhr die Enttäuschung durch mich hindurch. Der Korridor war voller Schüler, aber von Jared fehlte jede Spur. Ich musste über mich selbst den Kopf schütteln. Wie konnte ich erwartet haben, dass er da sein würde? Meine Fantasie war mit mir durchgegangen. Mit gesenkten Kopf ging ich durch die Schule. Der Fußboden unter mir war verdreckt, wie jeden Nachmittag und ebenso verschmutzte Schuhe eilten an mir vorbei. Jeder wollte so schnell es ging raus. Ob meine Mitschüler mir ansahen, wie naiv ich war?

Starker Wind begrüßte mich, als ich hinter einem Mädchen nach draußen trat, und ließ meine Haare herumwirbeln. Ich gab mir nicht die Mühe, sie zu bändigen. Es würde doch eh nichts nützen.

Vereinzelte Regentropfen fielen vom Himmel herunter, landeten auf mir und versickerten in meiner Kleidung.

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich trug noch immer Jareds Jacke! Das musste es sein! Er hatte versucht, mir durch die Blume mitzuteilen, dass er sie wiederhaben wollte. Jared war viel zu freundlich, um es mir direkt zu sagen. Oh Gott, und ich lief weiter mit ihr herum, als hätte ich irgendein Anrecht darauf. Wie konnte ich nur so verträumt sein?

Mitten auf dem Parkplatz blieb ich stehen und sah zurück zum Schuleingang. Sollte ich jetzt noch zurück und ihn suchen? Oder sie ihm morgen zurückgeben und mich für meine Gedankenlosigkeit entschuldigen? Ich zog den Kragen hoch und roch dran. Der Waldgeruch stieg mir in die Nase und beruhigte mich augenblicklich. Die selbstsüchtige Seite in mir wollte den Geruch noch wenigstens einen Abend lang behalten. Morgen. Direkt Morgenfrüh würde ich sie ihm zurückgeben, beschloss ich und wandte mich wieder den Autos zu.

„Kim!", hallte Jareds Stimme über den Platz und ließ mich innehalten.

Durch den Regen trat er zu mir. Es tröpfelte nicht mehr, stattdessen fiel das Wasser nur so aus den Wolken. Innerhalb weniger Sekunden waren wir völlig durchnässt.

Ob er gesehen hatte, wie ich an seiner Jacke geschnüffelt hatte?

„Entschuldige bitte, der Unterricht ging etwas länger." Er kratze sich am Kopf und blickte mich an.

Ich wollte es ihm nicht unangenehmer machen, als ohnehin schon und sammelte meinen winzigen Mut zusammen. Meine nassen Finger griffen zu dem Reißverschluss und zogen ihn hinunter. „D-Danke für die Jacke", schaffte ich, es zu sagen.

„Warte! Nein", er griff nach meiner Hand.

Der unerwartete Körperkontakt brachte meine Welt zum Stillstehen. Ich nahm nur noch ihn wahr. Er mit seiner weichen Haut, die mich berührte! Unsere Berührung festigte mich, wie ein Anker das Schiff. Seine Finger waren sanft und sie strahlten eine Wärme aus, die ich augenblicklich nicht mehr missen wollte. Abermals war ich mir nicht sicher, ob ich nicht doch träumte.

Mit angehaltem Atem sah ich zu ihm auf. Seine Augen waren geweitet und im Gegensatz zu mir hob und senkte sich sein Brustkorb hektisch. Seine Finger schlossen sich um meine und nahm sie langsam von dem Reißverschluss herunter. Wir hielten Händchen. Mit seiner anderen Hand zog er den Verschluss wieder nach oben. Dabei ließ er seinen Blick nicht einmal von mir los.

„Es ist kalt, behalte sie ruhig noch." Jared räusperte sich. Dass er so oft seine Stimme verlor, hatte ich nicht gewusst. Alleine heute hatte ich so viele neue Facetten von ihm kennengelernt.

„Aber du hast keine."

„Ich brauche sie nicht. Mir ist warm genug."

Das glaubte ich ihm sofort, wenn sein ganzer Körper so von Hitze strotzte wie seine Hand – die noch immer meine festumschlossen hielt.

Der Regen fiel weiter auf uns herab. Meine Haare klebten mir im Gesicht und dennoch störte ich mich nicht daran. Ich könnte Stunden auf dem Hof stehen bleiben, solange Jared mich berührte. Aber Paul unterbrach uns, indem er nach seinem Freund mit drängendem Tonfall rief.

Seufzend ließ Jared mich los und die fehlende Wärme brachte mir eine Gänsehaut ein. „Sehen wir uns morgen, Kim?"

Er wollte mich wieder sehen. Wahrlich, ich war im siebten Himmel. Ich nickte und hoffte, meine übereifrige Freude nicht allzu stark gezeigt zu haben.

„Okay, dann ... machs gut." Zögernd sah er mich an und ich hob zum Abschied meine Hand und winkte ihm zu.

Lächelnd tat er es mir nach.


His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt