Kapitel 2

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Jared Cameron war wieder da.
Dad würde nie verstehen, was diese Neuigkeit für seine Töchter zu bedeuten hatte. Insbesondere für mich, denn kaum, dass Alex den Satz zu Ende gesprochen hatte, war meine Lebensfreude zurückgekehrt. Die Hitze in mir vertrieb die Eisschollen und pumpte wieder hitziges Blut durch meine Adern. Das Adrenalin fuhr durch mich hindurch und am liebsten hätte ich meinen Vater dazu beordert Gas zu geben. Aber ein Unfall würde keinem von uns nutzen. So musste ich mich damit beschäftigen, unruhig auf meinem Sitz hin und her zu rutschen und meiner Schwester zuhören.

Chayenne, die Quelle von Alex, war eine bekannte Tratschtante. Eine mit den zuverlässigsten Informationen. Aber ich hielt mich davon ab, ihr vollkommen zu vertrauen. Der Enttäuschung würde ich nicht standhalten. Laut unserem Informatiklehrer war es, in wenigen Jahren, möglich ohne große Schwierigkeiten Fotos über das Handy zu verschicken. Aber das war Zukunftsmusik und ich musste warten, bis wir in La Push waren.

Die Fahrt war nervenaufreibend für uns alle und jeder stieg, einer Stunde später, erleichternd aus dem Wagen. Mom hatte die ganze restliche Rückfahrt über versucht, Alex darüber auszuquetschen, ob sie Interesse an einem der beiden Jungs hätte. Dad hatte beharrlich geschwiegen und die Lautstärke der Musik erhöht, aber davon ließ sich unsere Mutter nicht stören. Sie hackte weiter nach, bis Alex augenrollend meinte, sie möge die Jungs zwar, dennoch sei sie an keinem der beiden groß interessiert. Lediglich, dass sie verschwunden waren und jetzt wieder da waren, hatte sie neugierig gemacht. Insbesondere weil Caitlyn, eine Freundin ihrerseits, immer noch fehlte.

Dass Alex keine Gefühle für Jared hatte, beruhigte mich, denn die gleiche Frage war auch durch meinen Kopf geschossen. Mir war klar, dass ich nie mit Jared zusammen kommen würde, aber ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, eine Beziehung zwischen den beiden von Nahem mitzukriegen.

Alex flitzte nach oben und zog sich vermutlich ihre Sportkleidung an. Ich dagegen verlor keine Zeit und ging Richtung des First Beach. Die Sonne war dabei unterzugehen und die Straßenlaternen gingen nacheinander an. Auf der Hälfte des Weges ließ mich der kräftige Wind frösteln und ich zog die dünne Jacke enger um meinen Körper. Gekleidet in Kleid und Strumpfhose war nicht die beste Idee an die Küste des Pazifiks zu spazieren. Aber ich hatte keine Zeit zu verlieren. Die Vorfreude Jared wiederzusehen, machte mich hibbelig. Gleichzeitig wollte ich nicht enttäuscht werden. Ich steigerte meine Geschwindigkeit und mir wurde wenigstens etwas wärmer.

Den Strand erreichte ich schneller als gewöhnlich und ich hörte, wie das dunkle Meer wild vor sich hintrieb. Tief atmete ich die salzige Luft ein. Mit meinen Ballerinas versuchte ich gar nicht erst durch den Sand zu kommen und zog sie gleich aus. Mom würde mir eine Standpauke halten, wenn sie meine schwarze Strumpfhose in der Wäsche finden wird. Der Sand unter meinen Füßen war so kalt, wie es sich für Januar gehörte, und verschaffte mir eine ordentliche Gänsehaut. Eh ich mich versah, waren meine Fußspitzen zugefroren und war mir klar, dass Mom die Strumpfhose nie zu Gesicht bekommen würde, denn die Muscheln unter mir drangen in meine Fußsohle und zerschnitten den Nylonstoff.

Ein tiefer Schrei, der definitiv keiner Möwe gehörte, übertönte die Geräusche des Meeres. Suchend sah ich mich nach der Quelle um, als ein erneuter Laut erklang. Augenblicklich blieb mir der Atem im Halse stecken. Mit geweiteten Augen sah ich zu den hohen Klippen, an dessen Rand die Wellen voller Wucht gegen stießen und beobachtete, wie jemand von dort aus mitten ins Meer fiel.

„Oh Gott", keuchte ich, verkrampfte und hielt mir die Hände vor die Augen. Meine Schuhe landeten im Sand. Ich hörte, wie der Körper auf das Wasser platschte und traute mich kaum, wieder hinzusehen. Erst als ich Rufe mitbekam, linste ich zwischen meine Finger hindurch und sah, wie jemand aus dem Meer watete. Die Erleichterung überrollte mich. Ich hatte keinen Selbstmord mitansehen müssen. Dennoch kam die Anspannung wieder in mir hoch, als eine weitere Person von den Klippen sprang.

Lebensmüde. Sie waren eindeutig Lebensmüde und das kam einem Suizid nahe, oder nicht?
„Sind die irre?" Erschrocken drehte ich mich um. Alex, in Sportkleidung samt Kapuze, stand dort und sah so schockiert aus, wie ich mich fühlte. Nieselregen hatte eingesetzt und kurzzeitig bereute ich es, mich nicht umgezogen zu haben. „Pfeiffersches Drüsenfieber, das ich nicht lache!"

Es dauerte, bis ich den Sinn hinter der Aussage verstand. Ich wirbelte herum und kniff die Augen zusammen. Tatsächlich. Paul Lahote und Sam Uley standen am Ufer und starrten zu der übrig gebliebenen Person auf, die noch auf der Klippe stand. Meine Beine zitterten und egal, wie sehr ich mich zwang wegzuschauen, ich konnte es nicht. Jared - er musste es sein - nahm Anlauf und sprang. Es war, als würde sein Fall deutlich länger dauern, als die Vorigen. Angst schnürte mir die Kehle zu. Während seines Falles vollführte er einen Salto. Wäre nicht die Gefahr, dass er sich lebensbedrohlich verletzen könnte, wäre der Anblick fast malerisch. Am Horizont die untergehende Sonne und die Silhouette Jareds, die einen perfekten Absprung machte. Aber da waren spitze Felsen im Meer. Er dufte nicht sterben. Nein. Bitte, bitte nicht.

Das Platschen ließ mich zusammenzucken. Mein Körper stand starr da. Meine Muskeln verkrampft. Die Welt stand still. Da war kein Wellenrauschen. Keine Möwen. Keine Alex. Ausschließlich mein Herz, das viel zu schnell schlug.

Sekunden strichen dahin, bis Jareds Gestalt an der Oberfläche auftauchte. Augenblicklich sackte ich in mich zusammen und saß neben den Schuhen am Boden. Den kalten Sand nahm ich kaum wahr. Der Kloß in mir löste sich und ich schnappte nach Luft.

„Weinst du etwa, Kimmy?" Alex braune Augen tauchten vor mir auf und sahen mich besorgt zu mir hinunter.

Meine Finger glitten über meine Augen und wurden nass. Ich schluckte und versuchte, einen vernünftigen Satz aus mir herauszubekommen. Aber alles, was mein Mund verließ, war unzusammenhängendes Gestammel. „Ich... Angst und.. Oh Gott... Er lebt!"

Verständnis trat in Alex Gesicht. „Ich habs gesehen. Komm, ich will lieber nicht mitkriegen, wie die in den Tod springen." Sie hielt mir ihre Hand hin, aber ich war mir nicht sicher, ob ich jetzt in der Lage war aufzustehen. Dennoch griff ich zu und versuchte, mich zu erheben.

„Alles okay bei euch?"

Ich erstarrte in meiner Bewegung und sah, wie sich hinter meiner Schwester drei junge Männer aufgebaut hatten. Jared Cameron stand dort. Wassertropfen fielen an ihm herunter und wässerten den Sand unter ihm schneller, als es der Regen vermochte. Er hatte sich verändert. Im Dezember hatte er sein Haar lang getragen – wie es für die Jungen in unseren Stamm üblich war. Jetzt war es kurz rasiert und seinen Gesichtszügen war das Weiche entwachsen. Im Sommer, als ich ihn zuletzt oben ohne gesehen hatte, besaß er definierte Muskeln, aber das Sixpack war neu. War er gewachsen? Von hier unten erschien er mir größer als sonst. Konnte ein Mensch sich in drei Wochen so stark verändern? Doch eines war gleich geblieben. Die Wärme seiner Augen. Sie luden dich dazu ein, sich in ihnen zu versinken, und versprachen dir, dich zu beschützen.

Warte.

Stopp.

Oh Gott.

Er sah mich an!

Das dufte er nicht! Das war neu! Das hatte er nie getan!

Nie sind seine Iren auf mich gerichtet gewesen! Was war das für ein Blick? Den kannte ich nicht. Sie waren geweitet, die Pupille war vergrößert und drängte das dunkle Braun an den Rand. Er blinzelte nicht. Dieser Blick war nicht in meinem Jared-Lexikon abgespeichert. Ich kannte all seine Blicke. Den, wenn er hungrig war. Den, wenn er seine Hausaufgaben vergessen hatte. Sogar den, als er in der fünften Klasse, wegen Jessica Parker, an Liebeskummer gelitten hatte.
Mein Gehirn lag blank und erst als Alex mich hochzog, bemerkte ich, dass sie Sam eine patzige Antwort entgegengeschleudert hatte. Jedenfalls glaubte ich, ihren Ton erkannt zu haben. Aber sicher war ich mir nicht. Jegliche Sicherheit war mir vor nur wenigen Sekunden verloren gegangen, als der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens völlig verändert vor mir stand.



His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt