Kapitel 21

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27.01.2006


Vorsichtig strich ich mit dem Pinsel über die weiße Leinwand und konnte beobachten, wie sie sich mit einem hellen Braunton verfärbte. Kritisch betrachtete ich das Ergebnis, ehe ich den Pinsel erneut in die Farbe tauchte und ihn dieses mal mehr von dem Braun aufnehmen ließ, um es etwas kräftiger zu haben.

Nachdem ich heute Morgen erwacht war, hatte ich eine Eingebung gehabt. Mit einem Mal hatte ich gewusst, was für ein Motiv ich im Kunstunterricht malen wollte.

Um es fertigzustellen, hatten wir diese und die darauffolgende Woche noch Zeit und ich war zuversichtlich es noch zeitlich zu schaffen. Dass Mr Collin – mir fiel jetzt erst auf, dass Collin, der Freund von Alex, ein Namensvetter unseres Kunstlehrers war– zudem noch einen Aufsatz wollte, sagte mir nicht unbedingt zu. Aber gedanklich machte ich mir bereits darüber Notizen, was dort drinnen stehen sollte. Ob es wirklich die richtige Entscheidung war, dieses Motiv zu wählen, würde ich am Ende wohl herausfinden müssen. Aber mir war nichts anderes eingefallen und ich wollte nicht noch mehr Zeit verschwenden.

Ich war keine besonders gute Künstlerin und war selbst gespannt, ob ich es so hinbekommen würde, wie ich es mir vorstellte. Jetzt sah es jedenfalls noch weit davon entfernt aus. Die obere Hälfte der Leinwand war dunkelblau, die untere beige. Einen Sternenhimmel stellte ich mir einfach vor. Mit weißer Farbe und einem Pinsel würde ich viele kleine Punkte sprenkeln können. Aber beim Rest graute es mir schon so ein wenig.

Während ich darauf wartete, dass die Farbe trocknete, schweifte mein Blick durch das Klassenzimmer. Mittlerweile hatte jeder angefangen, seine Leinwand zu bemalen. Manche malten, so wie ich, direkt mit der Farbe, andere skizzierten erst noch mit einem Bleistift. Auch Paul, der wieder neben mir saß, strich mit seinem Stift über sein Bild und ich war unwillkürlich davon beeindruckt, wie viel Mühe er sich gab. Nachdem er letzte Woche lautstark zum Ausdruck gebracht hatte, dass er keine große Lust an der Aufgabe hatte, verwunderte und faszinierte mich seine unerwartete konzentrierte Art gleichermaßen.

„Ist was?", fragte er plötzlich, während sein Gesicht weiterhin der Leinwand zugewandt war.

„N-Nein. Ich warte nur darauf, dass meine Farbe trocknet."

Er brummte als Antwort und radierte einen Strich weg. Schweigend sah ich ihm dabei zu, wie er noch einige Stellen mit dem Stift nachbesserte und anschließend Überflüssiges verschwinden ließ. Sein Bild nahm Form an und es wirkte, als wäre alles am richtigen Platz.

„Zeichnest du gerne?", fragte ich interessiert nach. Er und ich hatten mehrere Monate zusammen im gleichen Kunstkurs gesessen, doch war mir nie aufgefallen, wie gut er darin war.

Paul zuckte mit den Schultern, legte den Radierer weg und streckte seine Arme aus, ehe er sich vollends mir zuwandte. „Ist ganz manchmal ganz nett. Wieso? Hast du mir das etwa nicht zugetraut?"

„Nein, hab ich nicht", sagte ich die Wahrheit.

Perplex blinzelte er mich an. Nach mehreren Sekunden, in denen keiner von uns weiter reagierte, prustete er plötzlich los.

„Was ist denn so witzig?", fragte ich irritiert nach, aber er schüttelte nur lachend den Kopf.

„Wer hätte das gedacht. Keine zwei Wochen bei uns und schon wird die Kleine frech." Amüsiert grinste er mich an. „Hast ja recht. Ich posaune nicht unbedingt heraus, dass ich ganz gut darin bin."

„Du scheinst Talent zu haben."

Er verzog das Gesicht. „Talent überschattet den Fleiß einer Person. Es heißt dann immer: Wow, du hast Talent. Ich werde das nie können. Dabei stimmt das nicht. Nur weil man das Talent hat, bedeutet es nicht, man würde es von Anfang an können. Auch diese Leute setzen Zeit und Energie hinein." Paul schnaubte auf und verschränkte die Arme. „Fehlendes Talent ist eine faule Ausrede."

Wow. Solch philosophischen Worte hatte ich von ihm nicht erwartet. Ich wiederholte im Geiste seine Wörter und dachte drüber nach. Im Endeffekt hatte er Recht. Eine Begabung erleichterte einen einfacheren Einstieg, aber man musste dennoch dem hinterher sein, sonst nützte einem das beste Talent nichts. „Tut mir leid, ich wollte dich keineswegs verletzen."

Sein grimmiger Gesichtsausdruck verschwand und mit einem leicht gehobenen Mundwinkel betrachtete er mich. „Hast du nicht. Keine Sorge." Er nickte zu meiner Leinwand. „Was wird das?"

Verlegen biss ich mir auf die Unterlippe. „Ein Strand."

Eine seiner Augenbraue ging nach oben. „Aha. Sehr aufschlussreich."

„Und deines?"

„Ha. Ich weiß, was das wird, Kim", durchschaute er meinen Ablenkungsversuch. „Aber gut, dann machen wir das so. Du verrätst mir nicht, was du malst und ich dir nicht, was ich male."
Und als wäre es beschlossene Sache wandte er wieder seiner Leinwand zu und sah die ganze Stunde über nicht mehr zu der meiner.

„Kumpel."

„Ja?"

„Ich glaube ... wir haben sie falsch eingeschätzt. Sie ist gar nicht so nett, wie wir glaubten."

„Wer?"

„Na die kleine Kim. Du glaubst kaum, was sie vorhin zu mir gesagt hat."

Ich kniff meine Augen zusammen und schoss Blitze zu Paul. Musste er das rumposaunen? Und das ausgerechnet vor Jared! Da traute ich mich einmal, etwas zu sagen, und schon bekam ich eine Retourkutsche. Außerdem war ich nicht klein! Leider bewirkte mein imaginärer Angriff nichts, außer, dass Pauls Brauen nach oben wanderten.

„Jetzt verflucht sie mich schon. Siehst du? Ich bekomme Angst."

Jared betrachtete mich nachdenklich und augenblicklich versteckte ich mich unter meinem Haarvorhang. Wärme kroch mir in die Wangen. Glücklicherweise verhinderte das Make-up, dass man die Röte sah.

„Egal was sie gesagt hat, Paul. Sie wird schon recht gehabt haben."

„Pff. Ist ja toll, wie du zu unserer Bromance stehst. Du solltest mich unterstützen."

„Mir ist nicht klar gewesen, dass wir eine Bromance führen. Außerdem führe ich schon eine glückliche Beziehung und halte dementsprechend zu Kim."

Das Schmunzeln konnte ich kaum unterdrücken. Neugierig spinkste ich unter meinem Haarvorhang hervor und sah, wie Jared mit gerunzelter Stirn Paul betrachtete. Dieser legte sich theatralisch die Hand auf die Brust.

„Wie kannst du sowas nur sagen?"

„Es tut mir Leid, Kumpel." Tröstend schlug Jared ihm auf die Schulter.

„Jetzt sag mir nicht, ihr verbringt den Abend wirklich ohne mich. Ich dachte, das wäre ein Scherz gewesen", sagte er mit einem übertriebenen jammernden Ton.

„Es tut mir Leid", sagte Jared grinsend.

„Ich brauch Zeit." Mit einem schüttelnden Kopf sah Paul zu Boden.

„Wofür?"

„Na um diese Zurückweisung zu verarbeiten!" Er seufzte schwer und hob die Hand zum Abschied. „Man sieht sich und", erneut entwich ihm ein Seufzer, „viel Spaß."

„Wollte er nicht mit uns im Auto fahren?", fragte ich, als er den Parkplatz zu Fuß verließ. Ich war davon ausgegangen, dass wir ihn zu Hause abladen würden, ehe Jared und ich nach Port Angeles fuhren. Für unser Date – innerlich schreie ich noch immer bei der Vorstellung.

„Ihm war ein dramatischer Abgang wohl wichtiger, als ein trockener nach Hause Weg", riet Jared.

„Ich wusste nicht, dass er solch eine Drama-Queen ist."

Er gluckste. „Paul ist immer für Überraschungen gut."

Wir grinsten uns an.

„Dann können wir direkt los. Bist du soweit?"

„Ja."

Nachdem ich gestern fix und fertig ins Bett gegangen war – ich erinnerte mich nur noch verschwommen – hatte mir die Zeit gefehlt, völlig überfordert vor dem Kleiderschrank zu stehen. Als mir das heute Morgen bewusst wurde, ist mein Anfall dementsprechend kurz, aber stark gewesen. Da zeigte sich wieder einmal das Glück, eine selbstbewusste und modische Schwester zu haben, die mir innerhalb weniger Minuten ein Outfit zusammenstellte, das einerseits schick und andererseits warm war und Bewegungsmöglichkeiten bot. Ein figurbetontes, bordeauxrotes Pulloverkleid mit einer schwarzen Thermostrumpfhose. Kombiniert hatte ich es mit einem Mantel, der bei den Temperaturen unverzichtbar war. Nach der letzten Unterrichtsstunde war ich noch flott im Waschraum verschwunden, hatte mich umgezogen und ein wenig Make-up aufgelegt, auf das ich normalerweise verzichtete. Doch nach Jared Reaktion würde ich mir überlegen, ob ich es nicht vielleicht öfters tragen sollte. Denn er hatte mich, als ich den Waschraum verlassen hatte, erst einmal mit einem sprachlosen Gesichtsausdruck angestarrt, bis Paul ihm einen Ellenbogen in die Seite gerammt hatte. Die darauffolgenden Komplimente der beiden hatte mich unter der Schminke in eine reife Tomate verwandelt.

Von La Push dauerte es nach Port Angeles über eine Stunde. Ich war nervös gewesen über so eine lange Zeit mit Jared alleine in einem solch kleinen Raum zu sein. Ich hatte die Befürchtung, wir würden uns anschweigen und er würde bemerken, wie wenig ich in der Lage war, ein vernünftiges Gespräch zu führen. Daraufhin würde er erkennen, dass wir kaum zusammenpassten und Schluss machen. Aber so war es nicht. Die Autofahrt ging unglaublich schnell vorüber und sie wurde tatsächlich von unserem Stimmen gefüllt. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt. Er fragte, ob es bereits Neuigkeiten zu Alex Stipendium gab und ich erzählte ihm, dass Coach Hill heute Nachmittag Alex zu sich ins Büro gerufen hatte, aber ich noch nichts erfahren hatte.

Es kam zu keinem Zeitpunkt zu einem unangenehmen Schweigen zwischen uns beiden. Wieder einmal zeigte es mir, wie perfekt Jared war. Und, den Gedanken erlaubte ich mir, wie perfekt wir beide vielleicht ja doch zusammen passten.

Da keiner von uns eigene Schlittschuhe besaß, liehen wir uns, für wenige Dollar, welche aus. Unsere Straßenschuhe lagerten wir in einem Spind. Alleine der Weg von der Bank zu ebenjenem Spind war ein wackeliges Unterfangen. Mit den Kufen unter den Füßen war ich noch größer, als normalerweise und es war ungewohnt nicht mit der gesamten Fußsohle aufzutreten.
Mit kleinen Schritten folgte ich Jared in die Halle und achtete hauptsächlich auf den Boden, um nicht schon jetzt zu fallen. Dass es ihm ähnlich ging, bemerkte ich zu dem Zeitpunkt nicht einmal, so sehr war ich auf mich selbst konzentriert. Meine Haare hatte ich im Auto ausnahmsweise in einem Zopf gebunden, da mir sie sonst im Weg stehen würden.
In der Eishalle war es deutlich kühler und die Stimmen der anderen Gäste hallten umher. Ich hielt mich an der Wand fest, als ich den ersten Schritt auf das schon abgenutzte Eis machte. Handschuhe wären eine gute Idee gewesen, stellte ich fest, denn die Wand und die Eisenstange waren eisigkalt.

Als ich meinte einen sicheren Halt zu haben, ohne mich festzuhalten, wandte ich mich Jared zu. Er stand einige Fuß weiter in der Halle und ruderte mit seinen Armen umher. Sein Gesicht hatte eine unnatürliche Blässe angenommen. Eine Vorahnung ergriff mich. An seinem dünnen Shirt lag es bestimmt nicht, dass er so aussah, als wäre ihm das alles nicht geheuer. Vorsichtig schlitterte ich auf ihn zu. Ich hielt deutlich näher an Jared an, als ich wollte – das Stoppen musste ich eindeutig noch lernen – aber das war wohl ganz gut so. Denn augenblicklich hielt er sich mit einer Hand an meiner Schulter fest. Bei dem plötzlichen Gewicht fing ich an zu schwanken.

„Alles gut?", fragte ich.

Er räusperte sich. „Ich dachte, es wäre einfacher."

„Bist du denn schon einmal Schlittschuhlaufen gewesen?"

„Nein", antwortete er zerknirscht.

„Oh." Damit hatte ich nicht gerechnet. Schließlich ist es seine Idee gewesen. „Wir können auch was anderes machen." Es wäre zwar schade, aber wir würden mit Sicherheit eine Alternative für unser Date finden.

Er schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Ich werde das schon schaffen. Ich muss nur etwas üben!"

Und so übten wir. Der Anfang war holprig und langsam, aber das fand ich gar nicht so schlecht. Ganz im Gegenteil, denn so konnte ich selbst noch etwas üben und machte mich nicht zum Affen. Und, der wichtigste Grund, ich konnte ihm nah sein und ihn ohne Bedenken anzufassen. Ich stützte ihn und im Schneckentempo schlitterten wir durch die Eishalle. Die Leute um uns herum störten sich nicht an uns, denn an jeder Ecke waren gute und schlechte Eisläufer vertreten. Hin und wieder fiel mein Blick auf diejenigen, die rückwärts schlitterten oder Pirouetten drehten und mein Mund blieb offen stehen.

„Du machst das gut", sagte ich nach einer ganzen Weile. Er hatte sein Gleichgewicht gefunden und stützte sich kaum noch an mir ab. Das fand ich einerseits schade, andererseits erfüllte es mich mit Stolz. Denn das ihm das Eislaufen schwerfiel, war nicht zu übersehen. Dass ich eine Schwäche an ihm entdeckt hatte, faszinierte mich und ich speicherte es in meinem Jared-Lexikon ab.

Eine steile Falte hatte sich auf seiner Stirn festgetackert und verdeutlichte seine Konzentration. Sein Blick war die meiste Zeit über auf das Eis unter ihm gerichtet, jetzt sah es zu mir auf. „Es tut mir leid. Du hast doch so gefreut. Ich wollte es dir nicht kaputt machen und jetzt hab ich uns die ganze Zeit über aufgehalten. Wir haben uns kaum vom Fleck bewegt."

Mit geweiteten Augen erwiderte ich seinen bekümmerten Blick. „Jared. Das hast du nicht. Ich habe mich nicht auf das Schlittschuhfahren gefreut. Also doch, natürlich auch darauf. Aber am wichtigsten war es mir, Zeit mit dir zu verbringen. Und das haben wir doch."

Seine Miene wurde weich und er legte seine freie Hand auf meine Wange. Wie von selbst schmiegte ich mein Gesicht in seine warme Haut und erwiderte den Kuss, den er mir schenkte. Meine Fersen hoben leicht ab und nebenbei bemerkte ich, wie auch Jared sein Gewicht anders verlagerte.

Abrupt endete unser Kuss, als wir beide die Balance verloren. Jareds Arm schloss sich um meine Taille. Meine Hände krallten sich in sein T-Shirt. Von außen betrachtet musste es witzig ausgesehen haben, wie wir zappelten und einander festkrallten, um nicht umzufallen. Keiner von uns schaffte es, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Und mit einem Mal plumpsten wir auf das glatte Eis. Luft stoß durch unsere Lungen.

„Gehts dir gut?", fragte Jared sogleich und hektisch scannte sein Blick meine Gestalt.

„Alles gut. Ich bin weich gelandet", sagte ich und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, als ich mich etwas aufraffte und zu ihm sah.

Ich lag regelrecht auf Jared. Wir waren uns schon nah gekommen, jedoch nie in der Horizontalen! Wer hätte gedacht, dass es sich gleich so anders anfühlte Bein an Bein, Brust an Brust mit ihm zu sein?! Und das, obwohl wir in voller Montur in der Öffentlichkeit waren!

„Wie geht es dir?" Strähnen hatten sich aus meinem Zopf gelöst und fielen in sein Gesicht. Ich konnte sie nicht entfernen ohne, dass ich wieder auf ihn plumpste.

„Geht schon." Er kniff die Augen zusammen und atmete tief ein.

„Das hört sich aber schmerzhaft an", sagte ich besorgt und machte mich daran, mich aufzurichten. Leichter gesagt, als getan. Meine Füße rutschten öfters weg und ich wollte mich nicht noch mehr an Jared abstützen, um ihm keine Schmerzen zu bereiten.

Es dauerte, aber irgendwann stand ich und half meinem Freund dabei, ebenfalls wieder auf zwei Füßen zu sehen.

„Wo tut es dir weh?" Nun war ich es, die seinen Körper nach Verletzungen absuchte.

Er schüttelte den Kopf. „Geht schon wieder. Das wird mir Paul ewig vorhalten", seufzte er. „Ich höre ihn jetzt schon, wie er mich damit aufziehen wird."

„Ich werde ihm nichts verraten", versprach ich und machte eine Handbewegung, die meine Lippen verschloss.

Nun schmunzelte er. „Ich weiß. Aber irgendwie wird er es doch herausfinden."

Fragend legte ich den Kopf schief und wartete auf eine weitere Erklärung, die jedoch nicht folgte. Stattdessen schlug Jared vor, ob wir nicht oben im Restaurant etwas essen sollten. Ich spürte schon meinen Magen grummeln und so schlitterten wir noch langsamer als zuvor, wieder hinaus.


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His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt