Kapitel 7

3K 89 9
                                    



17.01.2006
Zwei Tage hintereinander im Januar unter dem Regen stehen zu bleiben, blieb nicht ohne Folgen. Undamenhaft schnäuzte ich in mein Taschentuch.

„War ja klar, dass dein luftiger Aufzug am Strand Konsequenzen mit sich ziehen wird", hielt Alex mir vor und setzte den Blinker ein, eh sie auf den Parkplatz fuhr.

Als Antwort grummelte ich nur und beobachtete stattdessen lieber die Regentropfen, welche die Scheibe hinunterglitten. Dabei fuhren meine Hände über die Ärmel von Jareds Jacke, die ich schon zu Hause kaum loslassen wollte. Sie war der Beweis dafür, dass gestern wirklich passiert war.

„Übrigens total mies von Dad die Lasagne gestern aufzuessen! Ich durfte dann Cornflakes zu Abend kriegen." Dad hatte großen Kohldampf bekommen und hatte die zurückgestellte Portion für Alex gegessen. Er hatte vergessen, dass sie ihre Diät schon wieder aufgegeben hatte und munter drauflos geschaufelt.

„Aber Mom macht am Wochenende wieder welche." Und mit ihrem schlechten Gewissen würde sie mehr als genug machen.

„Ja und dann isst Dad die mir wieder auf", schmollte sie und parkte das Auto.

Kopfschüttelnd verließ ich das Auto und folgte ihr diesen Morgen eilig durch den Regen. Ich wollte nicht noch kränker werden, als ich war.

„Guten Morgen, Kim", begrüßte mich Jared. Vom Auto aus hatte ich ihn schon erkannt und kaum glauben können, dass er tatsächlich auf mich zu warten schien. Er hielt mir die Eingangstür auf und mit rotem Gesicht ging ich in die Schule hinein.

„Guten Morgen", murmelte ich und spielte unbemerkt mit dem Loch in der Jackentasche herum.

„Guten Morgen, Alex. Guten Morgen, Jared. Wie geht es dir? Oh mir gehts gut, danke der Nachfrage und dir?", sagte Alex mit sarkastischer Stimme.

Jared lachte, als er sie schließlich auch begrüßte. „Hallo, Alex. Entschuldige."

Meine Schwester verdrehte die Augen. „Wo hast du deinen neuen besten Freund gelassen?"

Stimmt, Jared hatte uns alleine erwartet.

„Du meinst Paul?" Er zuckte mit den Schultern. „Kam heut schlecht aus den Federn."

„Wow, einen ganzen Schultag hat er geschafft. Danach darf man sich auch mal wieder gehen lassen."

Jared knirschte mit den Zähnen und schluckte scheinbar etwas herunter, bevor er antwortete. „Er hat seine Gründe und wird nachkommen. Wo musst du hin, Kim?"

Ich schrak auf. Wenn man nicht gewohnt war, angesprochen zu werden, rechnete man nicht mehr damit. „Z-zum Spind und dann Mathe." Noch immer kam mir kaum ein vollständiger Satz über die Lippen.

„Okay, dann los." Wieder lächelte er mich an und es fiel mir schwer, nach vorne zu schauen.
Glücklicherweise lief ich gegen keinen meiner Mitschüler, die den Flur verstopften. Jared folgte mir und unterhielt sich mit Alex, deren Schließfaches neben dem meinem war.

Heute schaffte ich es den Code beim ersten Versuch korrekt einzugeben. Mein Blick fiel auf die Innenseite meines Spindes. Wie es sich für Amerikaner gehörte, durften wir ihn gestalten. Ich hatte damals ein Familienfoto zusammen mit verschiedenen Stickern drauf geklebt. Seit einigen Wochen hing unter dem Foto ein geschlossener Briefumschlag. An unserem ersten Schultag im neuen Jahr sollten wir einen Neujahrsvorsatz verschriftlichen und ihn an einen Ort hinhängen, wo wir ständig dran erinnert wurden. Mein Vorsatz war in dem Umschlag. Ich brauchte ihn nicht zu öffnen, um mich zu erinnern, was drinnen stand.

Jared lachte über etwas, dass meine Schwester sagte, und ich straffte meine Schultern. Gleich wäre die perfekte Gelegenheit. Je länger ich es herauszögerte, desto weniger Mut würde ich haben es zu sagen.

Es gongte zum ersten Mal und ich nahm mein Mathebuch und schloss meinen Spind.
„Verdammt, du hast bestimmt Walker in Mahe, oder Kim?", fragte mich Jared unvermittelt.
Überrumpelt nickte ich. Wie sollte ich denn jetzt auf das richtige Thema kommen?

„Na dann beeil dich lieber. Nachsitzen war gestern nicht so prickelnd", sagte Alex, eh sie sich selbst verabschiedete und den Flur hinunterging.

„Komm." Jared nahm meine Hand und ging schnellen Schrittes zum Klassenraum. Wir hielten schon wieder Händchen! Vergessen war mein Vorsatz. Stattdessen genoss ich es, dass Jared sich scheinbar Sorgen um mich machte.


Mr Walker war einer der strengsten Lehrer an der Quileute Tribal School, aber dem Nachsitzen war ich glücklicherweise noch entkommen.

Genau wie gestern begleitete Jared mich von dem einem Kurs zum nächsten. Ich genoss die Zweisamkeit zwischen uns. Eine Gelegenheit meinen Vorsatz umzusetzen bekam ich nicht, da mir schlichtweg erneut der Mut fehlte. Vor der Mittagspause hatten wir wieder Englisch bei Mrs Miller und wir gingen gemeinsam in den Klassenraum. Meine Hände zitterten, als ich meine Unterlagen herausholte und sie auf den Tisch ablegte. Ich schniefte leicht und hoffte, dass ich vor Jared nicht die Nase putzen musste.

Unsere Lehrerin betrat den Raum und augenblicklich entspannte ich mich etwas. Unweigerlich hatte sich in mir der Druck breitgemacht das Gespräch mit Jared zu suchen. Wir konnten uns nicht ewig anschweigen, aber ich wusste nicht, worüber ich mit ihm reden sollte. Wenn Alex oder Paul da waren, war immer jemand am Sprechen. Nur wenn wir zu zweit waren, lag es an mir, die Stille zu brechen. Die Übergänge konnten im Schweigen stattfinden, das war kein Problem, denn schließlich gingen wir dabei durch überfüllte, laute Schulflure. Aber man konnte nicht ewig nebeneinandersitzen und nichts sagen. Wenn ich nur etwas mehr Mut hätte ...

Mrs Miller kam also gerade rechtzeitig. Sie begrüßte uns, wurde jedoch von einer sich öffnenden Tür unterbrochen.

„Morgen. Sorry fürs zu spät Kommen", sagte Paul leichthin und schlenderte zu seinem Platz.

„Wie schön, dass Sie auch noch das Bett verlassen haben, Mister Lahote", ließ es sich unsere Lehrerin nicht nehmen zu kommentieren. „Wie dem auch sei: Wir machen heute weiter mit Gedichtanalysen."


Mrs Miller mochte Partnerarbeiten. Ich nicht. Egal, ob wir zugeteilt wurden oder wir uns unsere Partner aussuchen durften. Es war jedes Mal eine Tortur, denn keiner wollte mit mir zusammenarbeiten. Die Reaktionen waren alle gleich. Augenrollen und genervtes Stöhnen. Ich wusste, dass es nicht unbedingt direkt etwas mit mir persönlich zu tun hatte, denn jeder würde lieber mit seinem Freund zusammen sein, als mit irgendjemand anderem. Aber weh tat es dennoch.

Als sie zum Ende der Stunde eben jene Arbeiten ankündigte, drehte sich mir schon der Magen und ich sackte in mich zusammen. Nur nebenbei bemerkte ich, wie auch Jared sich leicht anspannte. Bestimmt wollte er mit Paul in ein Team kommen.

„Ihr werdet ein Gedicht analysieren, sowie interpretieren. In Form eines Aufsatzes. Die Partner und das Gedicht stehen schon. Ihr habt bis Montag Zeit." Sie nahm einen Zettel vom Pult und fing an, die Namen in alphabetischer Reihenfolge aufzuzählen. Manchmal war es gut, dass ich Connweller hieß. So musste ich nicht ewig warten.

„Jared Cameron und Tadi Watola." Tadi saß nur einen Tisch weiter vor uns und drehte sich grinsend um. Er hob seine Hand und Jared erwiderte es, wenn auch nicht so euphorisch, wie ich es von ihm kannte. Mit Sicherheit hatte er auf Paul gehofft.

„Kim Connweller und Paul Lahote."

Ich unterdrückte gerade so ein überraschtes Quicken. Paul?! Bis auf gestern hatte ich nie mit ihm zu tun gehabt. Hatte ich überhaupt mal mit ihm gesprochen? Nein, nie. Er konnte lustig sein, aber er war unvorhersehbar. In der einen Sekunde war er witzig, in der nächsten war er aufbrausend und sauer. Ich würde ihm nur auf die Füße treten. Vielleicht konnten wir es so machen, wie ich es mal mit Ashley ausgemacht hatte, und jeder bekam eine Aufgabe, die er alleine bewältigte. Am Ende konnte man es zusammenfügen.

Ich war so in meinen Gedanken vertieft, dass ich weder mitkriegte, welches Gedicht wir bekamen, noch wie Jared und Paul über die Stühle hinweg miteinander kommunizierten.



His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt