Kapitel 11

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20.01.2006


„Sag bloß, wir haben schon wieder einen Kurs gemeinsam", fragte Paul mich überrascht, als wir vor dem Kunstraum stehen blieben.

Die Schulwoche, die mein Leben verändert hatte, war fast vorbei. Es war so einiges passiert. Jared, mein Schwarm Jared Cameron, hatte mich wahrgenommen und Kontakt zu mir hergestellt. Er sprach mit mir, aß mit mir und begleitete mich von dem einem Unterricht zum anderen. Es hatte gedauert, bis ich begriff, dass es kein Traum war. Sein neuer bester Freund Paul Lahote hatte dadurch gezwungener Maßen ebenfalls mit mir zu tun und behandelte mich völlig anders, als ich es von ihm erwartet hatte. Zudem hatte er festgestellt, dass wir nicht nur in Englisch in einem Kurs waren. Sondern sogar in Geschichte, Spanisch, Sport und jetzt auch in Kunst. Dass er es vorher nicht gewusst hatte, fand ich ihm nicht verwunderlich. Vor einigen Wochen lebten wir in verschiedenen Welten und jemanden, wie mich, nahm man nicht wahr. Selbst Jared, der in Englisch mein Sitznachbar war, hatte mich nie bemerkt. Dass wir beide nur noch zusätzlich in Sport in einem gemeinsamen Kurs waren, hatte mich schon Anfang des Schuljahres bedrückt.

Ich wusste weiterhin nicht, was der Grund war, weshalb Jared mich plötzlich wahrnahm, aber es war mir mittlerweile egal. Lieber genoss ich die Zeit mit den beiden. Der Abend gestern bei Emily und Sam hatte mir Spaß bereitet und nach dem Essen hatten wir sogar ein Brettspiel miteinander gespielt, eh Paul mich nach Hause gefahren hatte. Jared hatte, warum auch immer, bei Sam bleiben müssen, obwohl er nicht besonders begeistert darüber gewesen zu sein schien.

„Und ich darf zu Mr Walker", seufzte Jared mit betrübter Stimme.

Pauls Arm landete auf meiner Schulter. Bei dem unerwarteten Gewicht sank ich ein. „Mach dir nichts draus. Kimmy und ich machen uns ne schöne Zeit." Er zwinkerte mir zu und brachte damit Jared zum Knurren und mich zum Schmunzeln.

Beide hatten die Angewohnheit, wenn sie sich über etwas ärgerten, Laute wie ein Wolf zu machen. Gemäß meines Jared-Lexikon war das neu, aber es gefiel mir.

Jared funkelte Paul an, ehe er sich zu mir wandte. „Wir sehen uns nachher, Kim. Viel Spaß." Er lächelte mich an und ich hob die Hand und winkte ihm zu. Er erwiderte die Geste.

„Dir auch. Bis später", sagte ich. Diese Gestiken waren in den letzten Tagen zu unserem Ritual geworden. Innerlich flippe ich bei dem Gedanken aus – ich hatte ein ganz eigenes Ritual mit Jared!

„Bis dann, Hasenpups", rief Paul lachend, als Jared zwischen den Mengen an Schülern verschwand. Manche blickten sich bei dem Ausruf zu uns und ich spannte mich an, bis ich Jareds Reaktion sah und schmunzeln musste. Paul bekam eine Antwort in Form eines Mittelfingers.

Gemeinsam gingen wir beide in den mit Staffeleien bestückten Raum hinein. Noch immer hing Pauls Arm an mir und er zog mich in die hintere Reihe. Einzelne Schüler saßen bereits auf den Stühlen. Manche von ihnen blickten zu uns hinüber und wunderten sich bestimmt über die seltsame Kombination zwischen Paul und mir.

„H-Hier sitzt eigentlich Zack", bemerkte ich, obwohl Paul das wissen sollte, zumal er und Zack bis vor seinem Verschwinden befreundet gewesen sind. Seitdem hatte ich sie nicht mehr beisammen gesehen. „Mein Platz ist dort drüben." Ich zeigte in die Richtung der vorderen Sitzplätze.

„Aber hier hinten sitzt es sich besser", meinte Paul mit einem jammernden Tonfall in der Stimme. „Außerdem kann Zack sich umsetzen."

Theoretisch wäre das möglich, denn der Kunst-Unterricht war der einzige, in dem wir keine feste Sitzordnung zugeteilt bekommen hatten. Praktisch wollte ich keinerlei Umstände bereiten. „Mir macht es nichts aus, vorne zu sitzen."

Paul beugte sein Gesicht zu mir runter. „Aber mir", sagte er mit todernster Stimme. „Du wirst mir was schuldig sein, Kim."

Ich wollte schon fragen, weshalb, als er mit mir zusammen nach vorne ging. Er löste sich von mir und ließ sich auf den Stuhl neben meinem Platz fallen.

„Du brauchst nicht bei mir zu sitzen." Langsam ließ ich meine Tasche zu Boden gleiten und setzte mich.

„Will ich aber", entgegnete Paul und streckte seine langen Beine aus.

Weil er es wollte? Dann verstand ich nicht, wieso ich ihm etwas schuldig sein sollte. Na, wie er meinte. Stören tat ich mich daran nicht.

Clarissa, deren Platz er eingenommen hatte, dagegen schon. Mit einem perplexen Gesichtsausdruck blieb sie vor ihm stehen, ehe sie verärgert das Gesicht verzog. Sie wurde mit hochgezogener Braue von Paul betrachtet. Ein stummer Blickduell von nur wenigen Sekunden brachte Clarissa dazu, sich umzudrehen und sich in die hintere Reihe zu setzen. Zu ihren schweren Schritten fehlte nur noch Rauch, der aus ihren Ohren dampfte.

„Bienvenue, Benvenuto, willkommen, witamy", begrüßte uns Mr Collin mit lauter Stimme, als er den Raum betrat. Er war ein Kunstlehrer, wie ich ihn mir nicht anders wünschen würde. Extrovertiert und ein wenig verrückt. „Unser internationaler Monat ist schon zur Hälfte rum! Eure letzten Kunstwerke zieren unsere Flure, aber damit ist es nicht vorbei. Flaggen nachzumalen ist einfach und bietet keine echte Herausforderung." Er schüttelte theatralisch den Kopf. „Die nächsten Stunden aber werden genau das werden. Eine Herausforderungen! Wir werden alles aus uns herausholen. Unsere Inspiration, unsere Kreativität und unser Können." Mr Collin sprach wie gewohnt weiter und wollte gar nicht aufhören.

Das war immer so. Bei jedem neuen Projekt war er Feuer und Flamme und wollte diese Begeisterung an uns weitergeben. Wie die nächste Aufgabe genau lautete, kam erst am Ende seines Monologs heraus.

„Die Welt bietet uns so viele wunderbare Dinge. Ich möchte ein Kunstwerk, dass ein Teil unserer Welt ist. Seien es wahre Begebenheiten, traditionelle Feste oder wundersame Legenden. Sucht euch das aus, was ihr wollt. Ihr dürft euch frei entfallten." Er verstummte kurz. „Naja, es muss jugendfrei sein. Ihr kennt euren Direktor und das amerikanische Gesetz." Mr Collins verdrehte die Augen und ein Lachen ging durch die Klasse.

Auch Paul grunzte amüsiert auf.

„Ach und ich brauche einen klitzekleinen Aufsatz, weshalb ihr euch für das Motiv entschieden habt. Ihr wisst schon, das fließt in eure Note mit rein."

„Muss es was ausländisches sein?", fragte jemand hinter mir.

„Aber nein!", rief unser Lehrer mit geweiteten Augen. „International bedeutet weltweit. Selbstverständlich gehört Amerika dazu. Macht euch Gedanken, schnappt euch euren Stift und los geht es!" Mittlerweile war der Großteil der Stunde zwar schon wieder vorbei, aber jeder fing an, sich etwas zu überlegen-.


Stöhnend streckte Paul seine Arme nach oben aus und ließ seinen Blick auf meine weiße Leinwand fallen. „Hast du schon ne Idee?"

„Nicht wirklich", murmelte ich und betrachtete verzweifelnd die Leere vor mir.

„Mann, ich hab auch gar keinen Plan", stöhnte er und biss auf dem Bleistift herum.

„Mr Lahote, ich habe Sie die letzten Male vermisst", sagte Mr Collins, der zu uns trat. Er nutzte die Zeit, in der wir Schüler beschäftigt waren, entweder damit uns zu helfen oder selbst etwas zu dem Projekt beizutragen. Das war was mir besonders gut an ihm gefiel. Er sprach nicht nur von einem Uns, er lebte es auch. „Gerne hätte ich auch von Ihnen eine Flagge gesehen."

„Wenn Sie drauf bestehen, kann ich gerne jetzt noch eine malen", versuchte Paul aus der jetzigen Aufgabe zu fliehen.

„Aber nicht doch. Widmen Sie sich lieber der Herausforderung."

„Wenn das nur so einfach wäre", maulte Paul.

„Das ist es. Sie müssen sich nur den Kopf frei machen. Sonst sind Sie doch auch nicht so verkopft."

„Was soll das denn heißen?"

„Ich glaube, das wissen Sie besser als ich, Mr Lahote", schmunzelte unser Lehrer und ging weiter.

„Hat der mich gerade beleidigt?", fragte Paul mich im Flüsterton und ich hob die Schultern. „Mann, ey. Ich hab echt besseres zu tun."


„Ich hoffe, Paul geht dir im Unterricht nicht allzu sehr auf die Nerven, Kim", sagte Jared, als wir beide in der Cafeteria Platz genommen hatten.

Mittlerweile hatte sich der Tisch am Fenster zu unserem Stammtisch etabliert. Leider hatten die Regenwolken erneut die Sonne verdeckt und die Tropfen klatschten mit voller Wucht gegen die Scheiben und machten laute Geräusche. Dennoch hatten wir bisher immer Glück gehabt, dass er von sonst keiner Gruppe genutzt wurde. Auch, dass sich jemand zu uns setzen wollte, war bisher nicht vorgekommen. Das wunderte mich, weil die beiden Jungs sehr beliebt waren. Aber vielleicht traute sich niemand ... einige der Mädchen dort hinten sahen zu uns, ob sie hier sitzen wollten?

His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt