Kapitel 9

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19.01.2006


Alex war sportlich. Sie war im Cheerleaderteam, hatte bis vor kurzem noch Lacrosse gespielt und betrieb neben der Schule Leichtathletik. Für ihr Stipendium an einem College arbeitete sie hart, aber sie machte es auch, weil es ihr Freude und Spaß bereitete. Die Lehrer sagten schon früh, dass sie Talent besäße, und unsere Eltern hatten sie von Kindesbeinen an unterstützt. Bei Zwillingen meinten viele, der andere Teil die gleichen Kompetenzen aufwies. Schließlich teilten sie sich denselben Genpool. Mom war, zu Schulzeiten, ähnlich sportlich gewesen. Die Leute irritierte es immer, wenn sie bemerkten, dass mir das Können völlig fehlte. Aber in der Hinsicht – und in einigen weiteren – kam ich nun einmal nach Dad. Wir waren beides Leseratten, die sich lieber mit einem guten Buch in den Sessel mummelten. Die Begeisterung von der Tribüne aus Alex anzufeuern, fehlte uns meistens völlig. Klar, wir freuten uns, wenn sie gewann oder eine schwierige Figur darstellte, aber wir blieben dabei lieber still und zeigten unseren Stolz anders.
Dementsprechend graute es mir vor jeder Sportstunde. Und gleichzeitig genoss ich es. Ich war regelrecht zwiegespalten, denn seit dem Sommer hatten Jared und ich zusammen Sport. Meist war meine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet und ich bewunderte ihn und das Spiel seiner leicht ausgeprägten Muskeln. Er hatte nie mitbekommen, wie ich ihn dabei beobachtete. Bis vor wenigen Tagen schien er mich nie wahrgenommen zu haben.

Heute aber war alles anders. Als ich die Umkleide – wohlgemerkt der schlimmste Ort der gesamten Schule – verließ und die Turnhalle betrat, schenkte er mir seine ganze Aufmerksamkeit. Seine braunen Augen waren auf mich gerichtet. Unbehaglich spielte ich an dem Saum meines blauen T-Shirts, als er mich musterte. Es beruhigte mich etwas, dass er mich schon am Anfang der Woche in der grauen Jogginghose gesehen hatte. Das Sportoberteil lag enger an mir, als meine übliche Kleidung und ich fühlte mich seltsam nackt. Es betonte unvorteilhaft meine schmale Gestalt und sogleich wünschte ich mir Jareds Jacke herbei

„Endlich mal ein bisschen Bewegung", sagte Paul und streckte sich. Er und Jared trugen Muskelshirts und, im Gegensatz zu unseren restlichen Mitschülern, standen diese ihnen ausgezeichnet. Sie definierten die trainierten Oberkörper der beiden. Ihre Muskeln waren nicht mehr nur ausgeprägt, sondern waren deutlich sichtbar. Wie Jareds nackte Haut sich wohl an meiner anfühlen würde?

Paul hatte ein rundes Tattoo auf seinem rechten Oberarm und ich erinnerte mich, bei Jared , sonntags, ein ähnliches an gleicher Stelle gesehen zu haben. Sogleich lief ich um Jared herum und sah zu seinem Arm hinauf. Tatsächlich. Sie beide trugen das gleiche Tattoo. Es war schwarz und wurde von einem Kreis umrundet. Erst bei genauerer Betrachtung fielen mir die zwei Tiere auf, die sich gegenüber standen. Sie hatten Ähnlichkeiten mit Hunden, aber mein Gefühl sagte mir, dass es Wölfe darstellen sollte.

Jared räusperte sich und ich wandte mich seinem Gesicht zu, dass rot geworden war.

„T-Tut mir Leid", sagte ich und spürte, wie mein Gesicht seinem Konkurrenz machte. Ich hatte ihn angestarrt und nicht darüber nachgedacht, dass er das mitkriegte! Er war doch keine Schaufensterpuppe!

„Nicht doch." Jared schluckte und sah nach unten zu seiner Tätowierung. „Mir gefällt es, wenn du es anschaust."

„Das sind Wölfe, oder?", fragte ich und überging seine Aussage. Das Blut rauschte mir in den Ohren und ich musste meine Hände fest zusammen drücken, um dem Drang zu widerstehen, seinen Oberarm anzufassen. Das Tattoo machte sich hervorragend auf seiner dunklen, muskulösen Haut.

Er nickte. „Ja, Paul und Sam tragen das Gleiche. Es ist ein Tribal Tattoo und steht für unsere Legenden."

Mir war nicht klar gewesen, dass er und Paul sich so stark mit unserem Stamm verbunden fühlten, dass sie sich sogar etwas tätowieren lassen würden.

„Was unser lieber Jared wissen will", sagte Paul, legte seinen Arm um meine Schulter und grinste mich an, „ist, ob es dir gefällt."

„Paul", knurrte Jared. „D-Du musst nicht darauf antworten, Kim."

Ich errötete und sank unter Pauls Gewicht leicht ein. „A-Aber es gefällt mir. Wirklich, es sieht toll aus", gestand ich leise und traute mich nicht vom Boden aufzublicken.

Paul kicherte an meinem Ohr, ehe ein Pfiff der Trillerpfeife unseres Lehrers ertönte und das Gespräch unterbrach.


Stunden später stand ich, am Ende der Mittagspause, im Waschraum und wusch mir die Hände. Der Tag war schnell vergangen, trotz der ungewohnten Sportstunde. Wir hatten Leichtathletik gehabt und die ganze Klasse war aus dem Staunen kaum herausgekommen, als Jared oder Paul dran gewesen sind. Beide waren schon immer sportlich gewesen, aber sie brachten jede Übung mit Leichtigkeit über die Bühne, wie nie zuvor. Ich kam mir dagegen wie ein Trampeltier vor und war nicht wenige Male vor Nervosität gestolpert. Einmal hatte Jared mich aufgefangen und das Herz wäre mir fast aus der Brust gesprungen, so nah kamen wir uns. Ich hatte sogar die
Erhebung seines Sixpacks erspürt!

„Hallo, Kim."

Überrascht sah ich auf und erblickte das Spiegelbild von Coraima und Dakota. Zwei Mädchen mit tiefschwarzen langen Haaren und perfekt geschminkten Gesichtern. Sie gehörten beide dem Cheerleaderteam an. Wenn ich mich nicht täuschte, war Coraima sogar die Kapitänin des Teams. Das letzte Mal, als wir miteinander gesprochen hatten, musste in der Middle School gewesen sein, auf einem von Alex und meinen Geburtstagen. Dass sie mich ausgerechnet auf der Toilette ansprach, verunsicherte mich. Aber vermutlich hatte ich zu viele Teenie-Dramen geguckt und sie wollten mich nur grüßen.

„Hallo", erwiderte ich.

Das Wasserrauschen verstummte, als ich den Hahn ausmachte. Aus der Wandhalterung nahm ich mir Einmalhandtücher heraus und trocknete mir die Hände ab. Ich wollte schon an den beiden vorbei zur Türe gehen, als sie mich zurückhielten.

„Warte mal bitte."

Ich drehte mich um und warf das Papier in den Mülleimer. Im letzten Jahr waren sie immer zu dritt gewesen. Caitlyn Johnson gehörte zu dem Trio, aber sie verschwand vor den Ferien und im Gegensatz zu Jared und Paul, war sie nicht wieder aufgetaucht.

Mir fiel kein Grund ein, weshalb sie sich mit mir unterhalten wollten. Ich hatte gehört, dass die Freundinnen nicht zu unterschätzen waren. Selbst mir waren die Gerüchte bekannt, dass sie gerne ihre Macht vor anderen Schülerinnen ausspielten. Nur weil Alex meine Schwester war, genoss ich eine Art Schutz und war nie in ihr Visier geraten.

Auf Coraimas makellos geschminkten Lippen bildete sich ein Lächeln und ich entspannte mich etwas. „Tut uns leid, dass wir dich auf der Toilette überfallen, aber momentan ist es ja kaum möglich, dich alleine zu erwischen." Sie legte ihren Kopf leicht schief und ihr schwarzer, dicker Zopf rutschte ihr von der Schulter.

„Hmh?"

„Na, du weißt schon. Seit vier Tagen läufst du eingekesselt zwischen Paul und Jared durch die Schule", erklärte Dakota, deren blauen Augen im Reservat einzigartig waren. Diese hatte sie ihrem schwedischen Vater zu verdanken, der ihre Mutter bei einer Geschäftsreise kennengelernt hatte. Ansonsten war das indianische Gen bei Dakota dominanter und der Kontrast schenkte ihr etwas Exotisches. Sie erinnerte mich manchmal an eine Heldin aus einem meiner Bücher. Eine kalte Heldin, denn selten hatte ich eine Gefühlsregung ihrerseits mitgekriegt. Höchstens Mal, wenn sie von etwas genervt war.

Was hatte sie gesagt? Dass ich seit Tagen eingekesselt zwischen Paul und Jared durch die Schule lief. Stimmt. Die Woche war fast vorüber und ich lebte noch immer im Jared-Himmel. Seine Aufmerksamkeit war trotz meiner geringen Fähigkeit zu kommunizieren nicht abgeschwächt. Sogar Paul hatte nette Worte für mich übrig und ich hatte keine große Angst mehr vor heute Nachmittag, wenn ich mit ihm die Englischhausaufgaben machen würde. Ein wenig nervös war ich, aber vor einer Woche wäre es für mich undenkbar gewesen eine Partnerarbeit mit ihm zu bewältigen.

„Kim?", fragte Dakota mit Nachdruck in ihrer Stimme.

Abwartend sah ich sie an, da ich nicht wusste, was sie von mir wollten. „Hmh?"

Die beiden tauschten einen Blick miteinander aus, ehe sie sich wieder mir zu wandten und Coraima mit ihrer sanften Stimme wieder das Wort ergriff. „Wir sind ein bisschen neugierig, weißt du?" Sie schien auf eine Antwort meinerseits zu warten, aber mir fiel nicht ein, welche. Kurz bevor die Stille überhandnahm, sprach sie weiter. „Nun sag schon, Kim. Du kannst uns vertrauen." Sie zwinkerte mir zu und ich kam mir von Sekunde zu Sekunde dümmer vor, weil ich nicht verstand, was sie damit meinte.

Meine Schultern hoben sich fragend und ich sprach meinen Gedanken aus. „Ich verstehe nicht ganz."

Dakota rollte ihre blauen Augen und sprach mit deutlich härterer Stimme, als ihre Freundin. „Wir wollen wissen, ob du und Jared ein Paar seid."

Ich zuckte zusammen. Sowohl aufgrund ihres Tonfalles, als auch wegen der Behauptung. Die Hitze kroch mir ins Gesicht und ich hielt mich am Waschbecken fest, um nicht zu schwanken. Jared und ich sollten was sein?! Klar, es blieb weiterhin rätselhaft, weshalb er den Kontakt zu mir suchte, aber das war mit Sicherheit nicht der Grund! Mir wäre nie die Idee gekommen, dass er romantisches Interesse an mir haben könnte. Wir waren dabei Freunde zu werden! Wie kamen die beiden nur darauf?

„Also? Stimmt es oder stimmt es nicht?", fragte Dakota und riss mich aus meinen Gedanken.

„N-Nein", nuschelte ich und die beiden sahen sich an.

„Hab ich dir doch gesagt, Cora", meinte Dakota und zuckte mit den Schultern.

Coraima biss sich auf die Lippen und sah aus großen Augen wieder zu mir. „Tut mir leid, aber ich habt den Eindruck auf mich gemacht. Besonders am Dienstag, da seid ihr euch beim Mittagessen so nah gekommen."

Ihre Worte waren, als wäre eine Seifenblase um mich herum geplatzt. In dem Moment, als Jared mir die Tränen weggewischt hatte, war mir gar nicht bewusst gewesen, dass uns jeder sehen konnte. Generell hatte ich nie auf unsere Umgebung geachtet. Ich war so geblendet von ihm und seiner Ausstrahlung das alles weitere um mich herum verblasste.

Eine Hand von Coraina legte sich auf die meine, die sich am Waschbecken festgekrallt hatte. Mein Blick glitt von ihren perfekt manikürten Finger hinauf zu ihrem Gesicht, auf das sich ein warmes Lächeln abgebildet hatte.

„Magst du ihn denn Kim?"

Meine Augen weiteten sich und ich gab einen undeutbaren Laut von mir.

Coraina kicherte. „Das ist nicht verwunderlich. Vielleicht solltest du bei Gelegenheit mal bei uns am Tisch sitzen. Alex wird sich bestimmt freuen. Ich hab eh nie verstanden, weshalb sie dich nie mitnahm."

Wieder wusste ich nichts darauf zu antworten, denn ich wollte nicht unhöflich sein. Ich saß gerne alleine und hatte nie was mit den Cheerleaderinnen anfangen können, deswegen war Alex nicht auf die Idee gekommen mich dahin mitzunehmen. Und jetzt saß ich mit Jared und Paul zusammen und wollte das nicht missen.

Das Öffnen der Tür rettete mich und meine besagte Schwester kam hinein. Bei unseren Anblick hob sie die Brauen und betrachtete uns skeptisch.

„Hey Alex, was für ein Zufall. Wir haben uns gerade ein wenig mit Kim unterhalten." Coraina löste ihre Hand von mir und zog ihren Zopf stramm.

„Hi Cora. Dokota." Der misstraute Ton in Alex Stimme konnte ich nicht überhören. „Hab mich schon gefragt, warum du so auf dem Klo trödelst, Kim." Das war eine seltsame Aussage, schließlich hatten wir uns heute Morgen zuletzt gesehen. „Kommst du?"

„J-Ja."

„Bis dann Kim", rief Coraina mir noch hinterher, als die Tür sich hinter uns schloss.

Augenblicklich nahm Alex mich zur Seite und deutete Jared, der an einer Wand gelehnt dortzubleiben. Er hatte auf mich gewartet, Alex dagegen eigentlich nicht.

„War alles gut?" Ihr Blick scannte meinen Körper ab.

Verständnislos ließ ich es geschehen. „Ja, wir haben uns nur unterhalten. Sie waren nett."
Zweifelnd blickte Alex mich an. „Bist du dir sicher? Cora und Dakota können richtige Schlangen sein. Trotz ihrer lieblichen Mädchenstimmen."

„Aber ja doch", bestätigte ich und war es diesmal selbst, die aufgrund der Überfürsorge mit den Augen rollte. „Aber woher wusstest du, dass ich so lange dort drinnen war?

„Wegen deinem Wachhund." Sie zeigte auf Jared, der mit abgewandten Gesicht einige Meter von uns entfernt stand und leicht zusammenfuhr. „Bin am ihm vorbei und da bat er mich mal nach dir zu sehen."

„Oh." Ich bemerkte kaum, wie ich von selbst anfing zu lächeln.

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