Kapitel 3

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16.01.2006


Er war weitergezogen. Drei Wochen hatte er gebraucht, um von einem Teenager zu einem jungen Mann heranzuwachsen. Und ich stand hier vor dem Spiegel meines Kinderzimmers und war immer noch die Gleiche. Kim Connweller. Langweilige braune Haare. Absolut durchschnittliches Gesicht. Das schüchterne Mädchen von nebenan. Welches nie den Mund aufbekam. Keine Freunde besaß.

Ohne meine Zwillingsschwester hätte ich wohl nichts Besonderes an mir. Und nicht mal das bekam ich richtig hin. Alle Welt sprach von Zwillingsverbindungen – davon hatte ich nie was gespürt. Ich liebte Alex, keine Frage. Aber ich konnte ihre Gedanken nicht lesen und wusste selten, wie es ihr wirklich ging.

„Ich bin so doof", schluchzte ich und rieb mir die Tränen aus den Augen. Zum ersten Mal hatte er mich angesehen. Unendlich viele verschiedene Versionen hatte ich mir in den Jahren zusammengesponnen, wie es sein würde, wenn er mich wahrnehmen würde. Jetzt war es so weit gewesen und was hatte er zu Gesicht bekommen? Ein verstörtes Mädchen, das bei eisiger Kälte im Sand kniete und heulte. Er musste mich für durchgeknallt halten.

Jared und seine Freunde hatten Alex und mir hinterher gesehen, als wir den Strand verlassen hatten. Es war seltsam gewesen. Er hatte mich nie zuvor angeblickt und dennoch hatte ich instinktiv gespürt, dass er mir den ganzen Rückweg über den Sand nachgesehen hatte.

„Kim! Ich fahr los!", rief Alex aus dem Flur und schnell wischte ich mir die Tränenspuren aus dem Gesicht und eilte nach unten. Mit jeder Stufe, die ich entlang schritt, verschloss ich meine trüben Gedanken in einer Kiste und verstaute sie weit hinten in meinem Kopf.

Ein Schmerzenslaut entfuhr mir, als ich in meine Schuhe glitt. Die Muscheln hatten nicht nur meine Strumpfhose zerschnitten, sondern auch meine Fußsohlen. Alex hatte mich zwar verständnislos angeschaut, als sie auf dem Rückweg meine Kleidung bemerkt hatte, jedoch nicht weiter nachgefragt. Stattdessen hatte sie sich darüber ausgelassen, wie die Jungs von den Klippen gesprungen waren. Ob das neuen Mutproben sein sollten, hatte sie vermutet und sogleich Sam Uley vorgeworfen ein schlechter Einfluss zu sein. Ab dann hatte ich ihr nicht mehr zugehört und war meinen eigenen Gedanken nachgegangen, eh ich zu Hause einen depressiven Anfall bekam und anschließend weinend eingeschlafen war.

Dementsprechend waren die geschwollenen Augen und die Kopfschmerzen kein Wunder, die mich, mit Hilfe des Weckers, aus dem Bett geholt hatten. Die Kratzer am Fuß sollten wohl die letzte Warnung an mich sein, dass ich den Tag besser zu Hause verbrachte. Aber es konnte sein, dass Jared wieder in der Schule war. Und trotz, dass er mich für eine Gestörte hielt, wollte ich ihn sehen. So wie ich ihn immer gesehen hatte. Von der Ferne aus. Vielleicht hatte er mich schon wieder vergessen. Ich wusste nicht, ob ich es mir wünschte oder mich davor fürchtete.

„Die leben ja immer noch", sagte Alex mit Blick auf den Schuleingang, an dem Jared und Paul standen. Er war wirklich wieder da. Augenblicklich verkrampfte ich mich und ließ mich tiefer in meinen Sitz gleiten.

„Ich dache, du magst die beiden", sagte ich, als ich den missbilligenden Tonfall in ihrer Stimme wahrnahm.

Meine Schwester zuckte mit den Schultern und parkte den Wagen am hinteren Ende des Parkplatzes. „Tu ich auch. Aber du hast die gestern doch gesehen. Ich will nichts mit Drogen zu tun haben."

Aufmerksam setzte ich mich wieder auf. „Drogen?"

„Anabolika und wahrscheinlich auch Ecstasy."

„Was?", hauchte ich ungläubig.

Sie verdrehte die Augen. „Kimmy, du hast deinen Kopf echt in den Wolken."

„Hab ich nicht", widersprach ich nicht besonders überzeugend. „Aber wie kommst du denn darauf?"

„Innerhalb eines Monats kann niemand solche Muskeln ohne Hilfsmittelchen bekommen. Und dass die von den Klippen gesprungen sind, passt zu der Wirkung von Ecstasy." Alex nahm den Schlüssel aus dem Zündschloss und schnallte sich ab. „Jetzt steig aus. Ich hab Walker in der Ersten und kein Bock auf Nachsitzen."

Überfordert mit den Vermutungen über Jared, brauchte ich mehr als einen Anlauf, eh ich es schaffte mich abzuschnallen. Nieselregen hatte eingesetzt und der gestrige Abend zog vor meinem inneren Auge vorbei. Gänsehaut bildete sich auf mir und ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden.

Ich zog mir die Kapuze über den Kopf und ging langsamen Schrittes zum Schulgebäude. Mr McCortney war das komplette Gegenteil von Mr. Walker und litt an Chronischen Zu-spät-Kommen, da musste ich mich nicht beeilen.

Nein, ich glaubte nicht, dass Jared Drogen nahm. Das passte nicht zu ihm. Mit Sicherheit gab es eine Erklärung für seine Veränderung. Dass Paul auch eine durchgemacht hatte, war mir gar nicht aufgefallen. Was kein Wunder war, denn ich hatte gestern meinen Blick nicht von Jared lösen können.

Erst als ich durch die Eingangstür geschritten war, bemerkte ich, dass Jared nicht mehr vorne gestanden hatte. Auch Alex war schon über alle Berge verschwunden.

Vielleicht hatte ich meinen Kopf tatsächlich zu oft in den Wolken.

Die ersten Schulstunden zogen sich wie Kaugummi und meine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder dachte ich an meine Begegnung mit Jared zurück. Zusätzlich rächte mein Körper sich für die Aktion von gestern und zu den Kopfschmerzen, folgten Halsschmerzen. Die Pause zwischen Biologie und Englisch nutzte ich, um mir in der Krankenstation von Schwester Aiana Tabletten zu holen. Sie gehörte zu den Menschen, die für ihren Beruf gemacht waren. Sie war stets freundlich und empathisch. Zudem konnte sie jeden Schüler mit Vor- und Nachnamen benennen. Das schaffte nicht einmal der Großteil der Lehrer.

Ich hatte die Zeit unterschätzt, denn als ich das Klassenzimmer betrat, saßen die meisten schon an ihren Plätzen. Manche von ihnen teilten sich den Tisch mit den Austauschschülern, die bei ihnen zu Besuch waren. Eilig glitt ich auf meinen Stuhl und wühlte in der Tasche nach der Wasserflasche. Das Stimmengewusel, das penetrante Deckenlicht und die quietschenden Stühle verstärkten meine Kopfschmerzen und ich hoffte, dass es nicht schon zu spät für die Wirkung der Tablette war. Mit zitternden Fingern löste ich sie aus der Verpackung, eh ich den Deckel der Flasche abschraubte. Als ich dabei war, mir die Pille in den Mund zu stecken, bemerkte ich neben mir eine Bewegung. Ich dachte mir nichts dabei. Letzte Woche hatte sich ein Austauschschüler namens Jannik neben mich gesetzt, weil der Platz frei war. Ich griff nach der Wasserflasche und führte sie zu meinen Lippen, als ich ihn hörte.

„Hi."

Augenblicklich verschluckte ich mich. Das Wasser gelangte in meine Luftröhre, die Tablette blieb im mir Halse stecken und brachte mich heftig zum Husten. Die Flasche fiel mir aus den Händen und ich spürte nebenbei, wie die Nässe sich auf meiner Hose breitmachte. Tränen schossen mir in die Augen, als ich unaufhörlich weiter hustete.

„Scheiße! T-Tut mir Leid!"

Etwas klopfte mir leicht auf den Rücken und ich dachte ungewollt an meine Mom, die das ständig bei Dad durchführte. Bei ihr hatte ich das deutlich kräftiger in Erinnerung. Ich glaubte kaum, dass diese sanften Klopfer mir irgendwie helfen konnten. Seltsam, was für Gedanken einen im Kopf umherschwirren, wenn man zu Ersticken drohte.


His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt