Kapitel 23

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01.02.2006


Die Nacht war durchzogen von Albträumen. Jared, der von Klippen sprang, während ich verzweifelt nach ihm schrie. Er und Coraima engumschlungen vor dem Kino. Paul, der mit Wölfen durch den Wald lief und Sam, der zwei kleine Jungen betüddelte. Sowie Emily, die als Mumie verkleidet, Kuchen backte. Schweißnass war ich aufgewacht und hatte mehrere Minuten im Bett gelegen, um Traum von Realität zu unterscheiden.

Ich gab mir Mühe, das gestrige Ereignis nicht Anmerken zu lassen, als wir Jared und Paul am Schuleingang begrüßten. Stattdessen wollte ich mir Alex Worte ins Gedächtnis riefen. Das Gespräch mit ihr hatte mir geholfen, aber die letztendliche Gewissheit hatten sie mir nicht gegeben.

„Guten Morgen", wisperte Jared an meine Lippen. „Du siehst müde aus." Mein erschöpftes Gesicht konnte ich offensichtlich schlecht verbergen.

„Schlecht geschlafen", murmelte ich und blickte zum dreckigen Fliesenboden, als ich sah, wie besorgt er mich betrachtete. Ich wollte ihn nicht damit belasten. Wir gingen händchenhaltend durch den vollen Korridor und ich hörte, wie Paul und Alex vor uns über eine Fernsehsendung sprachen.

„W-wie war die Arbeit gestern?", fragte ich, als mir einfiel, warum Jared gestern nicht in der Schule war. Mir wurde schlecht, als mir klar wurde, dass ich wieder nur an mich dachte. Auch ihm und Paul zierten Augenringe und sogar einige Kratzer im Gesicht.

„Etwas turbulent und so bleibt es vermutlich auch erstmal. Aber ich glaube wir kriegen bald Verstärkung und dann regelt es sich hoffentlich alles", er seufzte schwer, zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf meinen Scheitel. Zitternd atmete er tief ein.

Ich hob meine Arme und umarmte ihn. Jareds Job war nicht leicht. Ich wollte für ihn da sein und das Gift von Coraima und Dakota gerieten in den Hintergrund, als ich seine Wärme an meinem Körper wahrnahm. Eng umschlungen standen wir zwischen unseren Mitschülern und bemerkten nicht, wie die Minuten verstrichen. Erst der Gong katapultierte uns in die Schule zurück. Wir lösten uns langsam voneinander und Jared gab mir erneut einen sanften Kuss.

„Danke", flüsterte er und sah mich aus warmen Augen heraus an.

Und da geschah es. Ich konnte nichts dafür. Der Damm brach. Dabei hatte ich ihn nur mit Müh und Not aufgerichtet. Aber die Nähe zu ihm hatte es alles wieder hervorgebracht. Es war unaufhaltsam. Die Welle schwappte über mich hinweg. Eh ich mich versah, verschwamm die Sicht vor mir. Schnell senkte ich den Blick und wollte zum Klassenraum eilen, aber es war zu spät. Jared hatte die Tränen schon entdeckt.

„Kim?!" Er hielt mein Handgelenk fest und fragte mit entsetzt: „Was ist los? Warum weinst du?"

„E-Entschuldige...", japste ich und gab mir alle Mühe, die Tränen wegzublinzeln. Trotz alldem rannen sie ohne Unterlass weiter. „I-ich will doch gar nicht weinen!", schluchzte ich und schloss die Augen. Aber auch das hielt den Fluss nicht auf. Mittlerweile waren meine Wangen nass und mein Atem hektisch.

Seine Hand an meinem Hinterkopf zog mich zu ihm und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Seine Arme umschlangen mich und der Duft nach Wald hüllte mich ein. Meine Fäuste krallten sich in den Stoff seines Shirts. War es merkwürdig, dass ich ausgerechnet bei ihm Trost fand? Selbst in den Armen von Alex hatte ich mich letzten Abend nicht so gefühlt, wie jetzt. Der Zwiespalt in mir zerriss meine Brust und erschwerte mir das Atmen. Lediglich der so vertraute Geruch von Jared schaffte es, dass ich weiter atmete.

Die Geräusche um mich herum vermischten sich zu einem wilden Strudel. Nur seine Stimme, die immer wieder beruhigende Worte murmelte, drang zu mir hindurch. Meine Emotionen überwältigten mich und ich hatte das Gefühl, als wäre ich ganz woanders. An Jareds Brust gepresst war ich in Sicherheit. Hier konnte ich loslassen. Aber stimmte das wirklich?

Abermals flogen die Fragen um mich herum. Warum hatte Jared mich an jenem Montag plötzlich wahrgenommen? War es wirklich wegen Sonntag gewesen? Was hatte er an mir gesehen, dass er mich aufsuchen musste? Warum mochte er mich?

Wir mussten eine halbe Ewigkeit im Flur gestanden haben, bis ich endlich nicht mehr weinte und eine weitere bis ich es schaffte, mich von ihm zu lösen. Sein T-Shirt zierte ein nasser Fleck und Scham stieg in mir auf, als mir klar wurde, dass es nicht nur durch Tränen entstanden war. 
Schniefend rieb ich mir über die Augen und als ich wieder sehen konnte, lag in seiner Hand ein Taschentuch, das er mir reichte. Peinlich berührt wischte ich die Spuren von meinem Gesicht.„Entschuldige", wisperte ich abgehackt.

„Kim, was ist passiert? Bitte, sprich mit mir." Seine Stimme war sanft und gleichzeitig drängend, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

Statt ihm zu antworten, schüttelte ich den Kopf und hickste plötzlich auf. Der Schluckauf war die Kirsche auf der Torte und passte natürlich hervorragend zu meinem fleckigen, feuchten Gesicht. Ich hatte mich nie hässlicher empfunden, als in diesem Moment. Es war sogar schlimmer, als der Augenblick, bei dem ich mich an meiner Tablette verschluckt hatte und meine Hose ein nasser Fleck zierte. Denn nun war auch mein innerstes krank. Es war völlig daneben von mir, Jared zu unterstellen, er würde nur einer Wette wegen mit mir zusammen sein wollen. Ich müsste es besser wissen. Sogar Alex hatte mich versuchen wollen, davon zu überzeugen.

Der Blick, wenn Jared dich ansieht, ist reine Liebe. Und diese gilt nur dir, Kimmy." - das hatte sie mir gestern gesagt, nachdem sie Coraima und Dakota als eifersüchtige Miststücke bezeichnet hatte. Und eigentlich wollte – nein, musste – ich ihr glauben, aber dennoch blieb in mir der Funken Zweifel, der mein ganzes Glück zerstören würde. Warum konnte ich ihm nicht vertrauen?

„I-Ich möchte in die Klasse", flüsterte ich und mied es in das enttäuschte Gesicht Jareds zu blicken.

Er schwieg einige Sekunden, ehe er zögerlich sagte: „Okay, ich begleite dich. Wenn du möchtest."

Sofort nickte ich und es tat mir leid, Jared solch widersprüchlichen Gefühle entgegenzubringen. Der Korridor war leer, denn der Unterricht hatte schon längst angefangen. Wie gut, dass Mr Walker eine andere Klasse zu dieser Zeit unterrichtete. Für Nachsitzen hatte ich keine Nerven. Durch die Türen drangen die Stimmen unserer Mitschüler zu uns durch und waren, neben unseren Schritten das Einzige, was die Stille zwischen uns durchschnitt. Alex und Paul waren schon längst im Unterricht verschwunden.

„Kim."

Wir waren vor meinem Klassenraum stehen geblieben und ich hatte bereits meine Hand zur Türklinke ausgestreckt, als er sprach. Ich hatte nicht damit gerechnet und zuckte leicht zusammen. Zaghaft drehte ich mich zu ihm und starrte auf den feuchten Fleck auf seinem T-Shirt. Die Scham setzte sich in mir fest.

„Egal was passiert ist", sagte er und bei dem ernsten Ton konnte ich nicht anders, als zu ihm aufzusehen. „Ich werde nicht wieder davon laufen. Ich bleibe bei dir und warte, bis du mit mir sprichst. Ich bin für dich da. Immer."

Meine Augen weiteten sich und ich verliebte mich von neuem in ihn. Er würde mir die Zeit geben, die ich brauchte. Und so lange würde er bei mir bleiben. Anders als Freitag, als er weggegangen war. Wahrlich. Ich hatte ihn nicht verdient. Während er sich weiterentwickelte, schaffte ich es abermals nicht, den Mund aufzukriegen. Wie können zwei Mädchen solche Zweifel in mir säen, wenn es hier um Jared ging.

„Danke." Ich wünschte, er würde hören, wie ernst mir dieses Wort war.

„Aber wenn du das möchtest, wenn du willst, dass ich gehe, dann sag es mir und ich werde es tun", presste er die Wörter heraus und ich erschrak, wie leidend sein Gesicht mit einem Mal aussah. „Aber du musst wissen, ich komme wieder, Kim. Ich kann nicht anders."

„Okay", hauchte ich.

His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt