Kapitel 4

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Es dauerte, bis mein Hustanfall abklang. Mit hochrotem Gesicht nahm ich die Hände von meinem Mund und sah darin die aufgequollene Tablette, die mich fast erstickt hätte.

„G-Gehts dir gut?", fragte die dunkle Stimme neben mir.

Erneut verkrampfe sich alles an mir. Es war keine Einbildung gewesen. Natürlich nicht. Schließlich war das hier auch sein Tisch. Wieso hatte ich nicht daran gedacht, dass er hier sein würde? Hatte ich mich in den letzten Wochen schon so sehr daran gewöhnt, dass er nicht da war?! Dabei hatte ich ihn sonst nie vergessen.

Aufzusehen traute ich mich nicht, weshalb ich nur abgehackt nickte. Gestern die heulende Verrückte, heute die Dumme, die an einer Tablette fast erstickte. Ich griff nach einem Taschentuch in meinem Mäppchen und knüllte darin den aufgequollenen Übeltäter ein.

Mein Haarvorhang, den ich in den letzten Jahren ständig genutzt hatte, hinderte andere daran in mein Gesicht zu sehen. Leider schränkte es auch mein Blickfeld ein und ich sah nur, wie Jareds große Gestalt sich vor unseren Tisch bückte, eh er wieder hochkam. Ein dumpfer Ton erklang, als er etwas vor mich hinstellte und sich dann neben mich setzte.

Er hatte meine fast leere Flasche aufgehoben und vor mich hingestellt. Ein Dankeschön meinerseits war angebracht, aber ich bekam kein Wort über die Lippen. Der Großteil des Wassers hatte sich auf mir verteilt und ließ mich frösteln. Doch ich konnte nicht von diesem Stuhl aufstehen. Wenn ich das tat, würde jeder meine nasse Kleidung sehen. Jared würde sie zu Gesicht bekommen. Es würde so ausschauen, als hätte ich mir in die Hose gemacht. Oder als wäre ich zu blöd, um zu trinken – was offensichtlich der Fall war.

Ich musste ausharren, bis der Unterricht vorbei war und jeder die Klasse verlassen hatte. Dann konnte ich in die Abstellkammer flüchten, die glücklicherweise direkt nebenan lag. Dort würde ich warten, bis alle wieder im Unterricht waren, mich zu meinem Spind begehen, Wechselkleidung holen und mich auf den Toiletten umziehen. Zum Chemie-Unterricht würde ich mich zwar verspäten, aber das musste sein. Abermals ging ich den Plan in meinem Kopf durch und empfand ihn für gut. Um ein Haar hätte ich mir selbst zugenickt, konnte mich davon jedoch rechtzeitig abhalten. Ich brauchte Jareds Eindruck von mir nicht zusätzlich verstärken.

„Guten Morgen, ihr Lieben", begrüßte uns Mrs Miller und ich versuchte, mich so gut es ging, auf sie zu konzentrieren. Was mir schwerer fiel, als üblich. Deutlich spürte ich Jareds Nähe. Wir saßen schon seit längerem im Englisch Unterricht nebeneinander. Mit der Zeit hatte ich mich an die ungewohnte Nähe vertraut gemacht und hatte die wenigen Stunden in der Woche genossen. Selbst meine Note litt irgendwann nicht mehr drunter. Aber es war anders als sonst. Denn ich bildete mir ein, dass er mich ansah.

„Mister Cameron und Mister Lahote, wie schön, dass Sie sich doch noch dazu entschieden haben, wieder aufzutauchen", sie sagte es mit einem leicht tadelnden Ton in der Stimme, der gleichzeitig freundlich blieb. Mrs Miller war zu Recht eine meiner liebsten Lehrerinnen. „Wenden Sie sich an ihre Sitznachbarn, wenn sie Schwierigkeiten haben, mitzukommen. Miss Connweller und Mister Brake sind Ihnen sicherlich behilflich."

War ich das? Aber natürlich war ich das! Jared konnte von mir alles haben, was er nur haben wollte!

„Dennoch richten Sie ihre Aufmerksamkeit jetzt lieber auf den Unterricht, als auf ihre Sitznachbarin, Mister Cameron."

Mein Atem stockte. Er sah mich an. Das sollte keine Einbildung gewesen sein?!

Mrs Miller fing mit dem Unterricht an. Ich versuchte, vergebens, zuzuhören. Die Anspannung verschlimmerte meine Kopfschmerzen, aber ich würde kein zweites Mal zu probieren, in Jareds Nähe, eine Tablette einzunehmen. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Tadi, ein Junge, der vor mir saß, kippte wie sonst auch gefährlich mit seinem Stuhl, während jemand anderes ständig auf einen Kulli herumdrückte und den Monolog über ein Gedicht von Mrs Miller begleitete. Mit der Zeit wurde mein Kopf immer schwerer und ich stützte ihn an meinen Händen ab.

„Kim?"

Abrupt blickte ich zu ihm auf. Vergessen waren meine Beschwerden oder mein Haarvorhang. Jared hatte meinen Namen ausgesprochen. Leise, fast flüsternd, waren ihm die drei Buchstaben über die Lippen gekommen. Seine warmen Augen sahen besorgt aus. Warum?

Seine vollen Lippen bewegten sich, aber ich hörte kein weiteres Wort. Zu sehr war ich damit beschäftigt ihn aus nächster Nähe beobachten zu können, ohne irgendwelche Haare im Weg zu haben. Sein Hautton war dunkel und rein – beneidenswert. Aber wie seltsam. Er trug ein T-Shirt, dabei fröstelte es mir. Er legte seinen Arm um die Lehne seines Stuhls und die Ärmel rutschten leicht nach oben. Hatte er sich etwa tätowiert?! Bis lang wusste ich nicht, dass ich auf Tattoos stand, aber seines wollte ich unbedingt einmal betrachten. Wieso war es mir gestern nicht schon aufgefallen? Mein Blick glitt zurück zu seinem Gesicht. Die dunklen, perfekten Augenbrauen zogen sich zusammen. Er wandte den Kopf ab und Enttäuschung machte sich in mir breit. War es das etwa schon? Bevor ich erneut hinter meinem Vorhang verschwinden konnte, drehte er sich wieder mir zu. Von seinem Oberkörper entwich eine Wärme, in die ich mich nur zu gerne kuscheln würde. Abermals bewegte er seine Lippen, ohne dass ich einen Ton hörte.

„Miss Conweller?", holte mich unsere Lehrerin zurück in den Klassenraum. Verwirrt, dass mir ihre Stimme näher vorkam, als normal, zuckte ich zusammen. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie vor unserem Tisch stand und mich ebenfalls besorgt ansah. „Mister Cameron begleitet Sie ins Krankenzimmer, ja?"

Überrumpelt ließ ich geschehen, dass mein Stuhl nach hinten gerückt wurde. Augenblicklich legte ich meine Hände über meinen nassen Schoß und spürte, wie die Hitze in mein Gesicht floss. Es sah wirklich so aus, als hätte ich mir in die Hose gemacht. Tränen der Scham traten mir in die Augen und ich glaubte, Jared fluchen zu hören. Aber es war zu leise, um es mit Sicherheit sagen zu können.

Ein dunkelroter Stoff wurde mir in die Hand gedrückt und ich erkannte, dass es Jareds Jacke war. Ich starrte darauf, ohne zu wissen, was ich damit tun sollte. Die Hose etwa trocken tupfen? Dafür war es doch viel zu spät und für das Kleidungsstück war es zu schade.

„Zieh meine Jacke an, Kim."

Perplex sah ich ihn an. Wie oft hatte ich mir gewünscht, diesen Satz einmal aus seinen Mund zu hören? Das hier konnte nicht mehr die Realität sein. Lag ich zu Hause in meinem Bett und litt unter Fieberträume?

Als ich nichts weiter tat, als ihn ohne zu Blinzeln anzustarren, nahm er die Jacke wieder an sich und hielt sie mir auffordernd auf. Er wollte wirklich, dass ich sie anzog! Das musste ein Traum sein. Ich spielte mit und versank kurz darauf in dem riesigen Kleidungsstück – es roch nach Wald und Erde. So sollte Jared also aus engster Nähe riechen. Der Traum fing an, mir zu gefallen.
Bestimmend drückte er mir auf den Rücken und brachte mich dazu, aufzustehen. Die Jacke reichte mir fast bis zu den Knien und verdeckte die Nässe.

„Komm", wisperte er an mein Ohr und ich folgte ihm mit einer Gänsehaut durch den Klassenraum, hinaus auf den Flur.

His wallflowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt