Prolog

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Mai 1999


„Jana! Wach auf!"

Ich wurde von der dringlich klingenden Stimme meiner Mutter wach, die mich kräftig an der Schulter rüttelte. Im ersten Moment dachte ich, ich hätte verschlafen und würde zu spät zur Schule kommen. Doch dann erinnerte ich mich, dass ich ja gar nicht mehr zur Schule musste. Hatte unser Abijahrgang nicht gestern erst die Ergebnisse bekommen und sie ausgiebig gefeiert?

„Was ist denn los?", nuschelte ich unwillig.

„Steh auf. Es scheint irgendwas passiert zu sein. Julias Eltern sind da und möchten mit dir sprechen!"

Bei diesen Worten war ich sofort hellwach. Julias Eltern? Was wollten die? Die Ereignisse der gestrigen Nacht fielen mir wieder ein. Es war doch aber nichts wirklich Schlimmes passiert. Oder hatte Julia ihren Eltern eine ganz andere Version erzählt?

Ich stieg aus dem Bett, zog mir meinen Bademantel über den Schlafanzug an und schlurfte hinter meiner Mutter her in den Flur.

Sabine und Jürgen Mayer standen in unserem nicht sehr großen Flur herum und traten ungeduldig von einem Bein aufs andere. Ihre Gesichter sahen ziemlich besorgt aus.

„Jana, du warst doch gestern auch auf dieser Party unten am See?", fragte Herr Mayer ohne Begrüßung. Ich mochte den Mann nicht.

„Ja, war ich."

„Bis wann warst du ungefähr dort?"

„Vielleicht bis halb eins?" Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus.

„War Julia ebenfalls noch da, als du gegangen bist?" Mein Unbehagen wurde mit jeder Frage größer. Was sollte dieses Kreuzverhör?

„Ich...weiß nicht..." Ich warf meiner Mutter einen hilfesuchenden Blick zu. Diese sah ebenfalls erschrocken aus, aber sie schaffte es irgendwie beherrscht zu klingen.

„Was sollen eigentlich diese ganzen Fragen? Was ist denn überhaupt passiert?"

Frau Mayer schluchzte auf und erklärte dann mit erstickter Stimme:

„Julia ist bis heute nicht nach Hause gekommen! Wir machen uns Sorgen. Die Polizei will eine offizielle Vermisstenanzeige erst nach 24 Stunden nach ihrem Verschwinden annehmen, weil sie bereits volljährig ist. Doch da es gestern diese verdammte Party am See gab und dort allem Anschein nach jede Menge Alkohol geflossen ist, haben wir beschlossen, bereits jetzt nach ihr zu suchen. Jana, kannst du dir vielleicht vorstellen, wo sie hingegangen sein könnte?" Sie sah mich mit einem flehenden Blick an.

„Vielleicht ist sie bei Stefan?", sagte ich vorsichtig. Doch diese Vermutung erschien mir eher abwegig, als ich mich an den Abend zuvor erinnerte.

Herr Mayer gab ein verächtlich klingendes Geräusch von sich.

„Dort waren wir schon. Da ist sie nicht und Stefan weiß auch nicht wo sie ist. Zumindest behauptet er das. Ich hatte ihr doch gesagt, sie soll sich von ihm fernhalten. Der ist doch absolut nicht gut für sie."

Na, das ist ja wohl eher andersrum, dachte ich, sagte es aber nicht laut.

„Bei Laura ist sie ebenfalls nicht, genauso wie bei ihrer Schwester in Köln. Obwohl sie nachts sowieso nicht hätte nach Köln kommen können", bemerkte Sabine Mayer mit tränenschwerer Stimme.

„Waren Sie schon bei Max?", rutschte es mir stattdessen heraus.

„Bei Max? Warum sollte sie dort sein?", fragte Julias Vater erstaunt.

„Keine Ahnung, war nur so eine Idee", meinte ich ausweichend.

Die zwei warfen einander verständnislose Blicke zu. Ach, was kannten sie ihre Tochter schlecht.
Schließlich ergriff Herr Mayer wieder das Wort:

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt