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Mai 2009


Der Tag, am dem wir Julias Tagebuch fanden und sich in Folge dessen alles aufklärte, stellte eine Art Zäsur dar, genauso wie damals diese schreckliche Nacht im Mai 1999, die überhaupt alles erst ins Rollen gebracht hatte. Vielleicht erschien es mir aber auch nur so, weil ich an diesem Tag nur knapp mit dem Leben davongekommen war. Immer noch konnte ich es nicht richtig glauben, dass Tom wirklich versucht hatte, mich umzubringen. Eigentlich wollte ich ihn vergessen und vermied jeden Gedanken an ihn, zumindest versuchte ich es. Doch meistens klappte es nicht, zumal das ganze Thema rund um die beiden Morde in der Stadt natürlich wieder fleißig breitgetreten wurde.

Sarah schaffte es tatsächlich, nicht ebenfalls ins Fadenkreuz zu geraten, obwohl es in unserer Stadt sonst immer üblich war, dass die gesamte Familie und der nähere Bekanntenkreis von jemandem, der in Ungnade fiel, ebenfalls von allen verurteilt wurde. Dadurch, dass Sarah sich jedoch selbst aktiv an dem Gerede über ihren Bruder beteiligte und jedem, der es hören wollte ‒ und auch jedem, der es nicht hören wollte ‒ erzählte, was für ein mieser Typ er war, schaffte sie es, dieses Schicksal erfolgreich abzuwenden. Ihrer Meinung nach konnte jemand, der Pferde nicht mochte, grundsätzlich kein guter Mensch sein.

Aus Sarahs schadenfrohen Erzählungen wusste ich auch, dass Toms Frau sich sofort nach seiner Verhaftung die Kinder geschnappt hatte und nach Hamburg zu ihren Eltern geflohen war. Das war verständlich, denn in Münster, wo trotz Großstadtstatus gefühlt jeder jeden kannte, würde sie kein schönes Leben mehr haben. Angeblich hatte sie auch am nächsten Tag direkt die Scheidung eingereicht. So viel also zu ‚in guten wie in schlechten Zeiten'.

Auch ich musste mir schiefe Blicke gefallen lassen, denn meine Verbindung mit Tom war natürlich ebenfalls nicht geheim geblieben. Meine Mutter war natürlich geschockt darüber, dass ich als minderjährige Schülerin eine Beziehung mit einem fünfzehn Jahre älteren Mann hatte und sie hätte Tom wahrscheinlich eigenhändig erschlagen, würde er nicht in U-Haft sitzen und darauf warten, wegen Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Hausfriedensbruch angeklagt zu werden. Die Geigers hatten es sich nicht nehmen lassen, ihn auch wegen des Eindringens in das Haus von Lauras Großmutter anzuzeigen. Sie selbst mussten sich allerdings ebenfalls den Gerüchten und der Missbilligung der anderen Stadtbewohner stellen, da nun klar war, dass Laura für Julias Tod verantwortlich war. Besonders die Mayers standen der Familie der ehemals besten Freundin ihrer Tochter verständlicherweise feindselig gegenüber, nachdem die Polizei sie über die Umstände von Julias Tod aufgeklärt hatte. So mussten Lauras Eltern wohl oder übel darüber nachdenken, selbst in das Haus in Albachten zu ziehen, anstatt es zu verkaufen, um den Lästereien zu entkommen und wenigstens etwas Ruhe zu haben.

Obwohl sich alles mehr oder weniger aufgeklärt hatte, kam bei mir trotzdem keine Erleichterung auf. Ganz im Gegenteil schwirrten mir noch ziemlich viele Fragen im Kopf herum und ich konnte es immer noch nicht fassen, dass Laura Julia getötet hatte. Alles, was ich darüber wusste, stammte überwiegend aus den kursierenden Gerüchten, denn nachdem die Polizei uns eingesammelt hatte, hatten Nicole, Stefan und ich keine Gelegenheit mehr gehabt, miteinander zu reden. Anscheinend hatte sich meine Theorie als richtig erwiesen und Stefan hatte tatsächlich mitangesehen, wie Laura Julia getötet hatte und anschließend alles verdrängt. Doch es gab mir trotzdem keine Ruhe, nicht genau zu wissen, was damals eigentlich wirklich passiert war. Nicole schien es ähnlich zu gehen, denn ein paar Tage später schlug sie vorsichtig vor, noch einmal zusammenzukommen. Zu einer finalen Aussprache, sozusagen. Ich rechnete nicht damit, dass es dazu kommen würde. Doch ich täuschte mich.


Es war ein wunderschöner, sonniger Frühlingstag, die Natur erstrahlte in leuchtenden Farben und es war langes Wochenende, weil der erste Mai auf einen Freitag gefallen war. Doch keiner von uns konnte sich über all diese Dinge freuen und uns war eher nach Regen, Wind und Kälte zumute.

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt