16.

30 6 0
                                    

Plattenberg saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und hatte die Füße auf den Tisch gelegt, sodass Jessica der Schuhsohle unfreiwillig entnehmen konnte, dass es sich um eine italienische Luxus-Schuhmarke handelte und der Herr Hauptkommissar die Größe 9.5 hatte.

Trotz aller teurer Kleidung und dem versnobten Gehabe, lassen seine Manieren aber sehr zu wünschen übrig, dachte sie verärgert. Auf wundersame Weise waren seine Schuhe blitzblank sauber, obwohl er damit noch am Morgen durch den nassen Wald gelaufen war. Wahrscheinlich hatte er ein Ersatzpaar dabei. Die Eitelkeit dieses Mannes kannte scheinbar keine Grenzen.

Es war bereits früher Nachmittag. Mittlerweile hatten sie auch die Eltern von Laura Geiger verständigt, auch, wenn sie ihnen nicht mehr viel sagen mussten. Die Klatschmäuler der Stadt waren den Ermittlern selbstverständlich schon zuvorgekommen. Die Eltern waren dennoch nach Münster gekommen, um die Identität der Toten zu bestätigen und sich dann Plattenbergs wenig einfühlsamen Fragen zu stellen. Sie hatten die Aussage von Ilse Schrader soweit bestätigt. Auch hatten sie bereits angefangen, sich ernsthafte Sorgen zu machen und überlegt, eine Vermisstenanzeige zu erstatten, sollte sich Laura im Laufe des Tages nicht melden. Das brauchten sie nun bedauerlicherweise nicht mehr. Jessica empfand tiefstes Mitleid für das Ehepaar. Sein eigenes Kind zu überleben, das wünschte man wirklich niemandem.

Auf dem Tisch lag die alte Akte von 1999, die sie aus dem Archiv geholt hatten. Es handelte sich um den längst abgeschlossenen Fall Julia Mayer. 

„Was haben wir also bisher: Das Mordopfer, Laura Geiger, wurde laut dem rechtsmedizinischen Befund in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch getötet. Todesursache ist Ersticken durch Erwürgen. Die Kopfverletzung wurde ihr vorher durch einen stumpfen Gegenstand zugefügt, war jedoch nicht tödlich. Kurz zuvor hatte sie eine Auseinandersetzung mit einem gewissen Stefan Feldmann, den sie anscheinend aus der Schulzeit kannte. Das wissen wir aus den Aussagen der klatschsüchtigen, versoffenen alten Schachtel von nebenan und der Eltern", fasste Plattenberg zusammen.

„Den genauen Gegenstand des Streits kennen wir nicht. Laut den Eltern war Laura selbst überrascht über den Besuch und hatte zurzeit auch keinen festen Partner. Es ist also doch eher unwahrscheinlich, dass die beiden in jüngster Zeit etwas miteinander hatten. Obwohl sie den Eltern vielleicht auch nicht alles, was ihr Liebesleben betraf, auf die Nase gebunden hat. Kurz nach dem Streitgespräch, ist sie aufgebrochen, um zurück nach Münster zu fahren. Stattdessen ist sie aber, wie wir wissen, auf den Parkplatz von diesem Tennisverein gefahren. Wollte sie sich dort mit dem Täter treffen? Oder ist sie zufällig auf ihn gestoßen? Was hatte sie sonst auf dem Parkplatz zu suchen? Und was hat das alles mit den Ereignissen von 1999 zu tun, wenn überhaupt? Sieht so aus, als hätten wir mehr Fragen als Antworten." 

Der Stuhl knarrte protestierend, als Plattenberg seine Haltung etwas verlagerte. Für diese Sitzhaltung war er eindeutig nicht konzipiert.

„Eine Verbindung zu dem Todesfall von 1999 besteht eigentlich nur durch die beiden Beteiligten und die räumliche Nähe der Leichenfundorte, aber der Tathergang ist völlig unterschiedlich, zumal es sich beim alten Fall nicht einmal um ein Gewaltverbrechen zu handeln scheint", ergänzte Jessica.

Sie hatte sich von der Einsicht der alten Akte mehr erhofft, doch nun war alles nur noch verwirrender. Die Aussagen der damaligen Beteiligten waren eine einzige Katastrophe. Sie bestanden aus lückenhaften Schilderungen, da scheinbar alle hoffnungslos betrunken gewesen waren. Nach einer Neubewertung der Beweislage, waren die Ermittler zu dem Schluss gekommen, dass Julia Mayer, ebenfalls stark alkoholisiert, selbst in den See gefallen und ertrunken war. Eine Verbindung zu ihrem jetzigen Mordfall war, bis auf die von Jessica genannten Tatsachen, nicht ersichtlich. Wobei es natürlich irgendwelche Details geben konnte, von denen sie noch nicht wussten. Herr und Frau Geiger konnten sich auch noch an das tragische Ereignis erinnern, denn Julia war Lauras beste Freundin gewesen. Sie hatten aber auch angemerkt, dass Laura in den ganzen Jahren nie mehr darüber gesprochen hat, zumindest nicht mit ihnen. Der Grund dafür konnte natürlich tiefe Trauer sein. Oder aber sie hatte selbst etwas mit dem Tod der Freundin zu tun gehabt.

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt