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Das Wissen darüber, dass sich in der Stadt dank Isabelles saublöder Idee einige meiner ehemaligen Mitschüler tummeln könnten, veranlasste mich zu äußerster Vorsicht. Ich musste genau darauf achten, wohin ich ging. Es würde mehr als unangenehm werden, ganz unerwartet jemandem zu begegnen. In einer so kleinen Stadt gar nicht mal so unwahrscheinlich.

Wo ich mich jedoch relativ sicher wähnte, war der Reitverein von Sarah Fichtenberg, auch wenn er sich gefährlich nah am verwunschenen Silbersee befand. Dieser Standort war nicht nur wegen der vielen Reitwege optimal für den Reitstall, sondern auch, weil im Südviertel die ganzen reichen Kids wohnten, deren Eltern nur zu bereit waren, die teuren Reitstunden zu bezahlen. Ich selbst hatte das „Glück" gehabt, dass mein Vater, nachdem er meine Mutter kurz nach meiner Geburt sitzen gelassen hatte, die ganzen Jahre hinweg mein teures Hobby finanziert hatte. Eher aus schlechtem Gewissen, als aus großer Liebe zu mir. Ob er das jetzt immer noch tun würde? Ich hatte ihm noch gar nichts von meinem Studienabbruch erzählt. Viel sprachen wir sowieso nicht miteinander.

„Das glaube ich jetzt nicht! Dass du dich hier mal wieder blicken lässt, nach all den Jahren!", begrüßte Sarah mich in ihrer typischen Art. Die langen, zum Zopf gefassten, braunen Haare waren nun von einigen grauen Strähnen durchzogen und ihr Gesicht wies mehr Falten auf als früher. Doch das waren nur Äußerlichkeiten, um die sich Sarah ganz bestimmt nicht scherte. Das hatte sie noch nie getan. Auch jetzt trug sie eine Stoffjacke, an der einige Strohhalme hingen, eine Jeans und schmutzige Reitstiefel.

„Tja, jetzt bin ich also wieder hier", seufzte ich, nachdem ich ihr kurz meinen gescheiterten Werdegang geschildert hatte.

„Ich könnte ja jetzt sagen, dass du schon längst im Olympia-Team wärst, wenn du hiergeblieben wärst. Aber das wäre wohl etwas zu hoch gegriffen."

„Das werden wir wohl nie erfahren."

Wir gingen am Weidezaun entlang. Die Pferde rupften friedlich das frische Frühlingsgras. Ich hielt nach einem ganz bestimmten Pferd Ausschau. Sarah erriet meine Gedanken sofort:

„Rosenrot ist vor ein paar Jahren in Rente gegangen. Ein nettes Ehepaar aus Coesfeld hat ihn als Weidenachbar für ihr jüngeres Pferd gekauft. Aber hier haben wir einen alten Bekannten...", sie deutete auf einen mächtigen Fuchswallach, dessen Fell an manchen Stellen grau wurde, „...Triumph ist noch da. Er ist auch schon bestimmt zwanzig. Ich setze ihn nicht mehr im Schulbetrieb ein, nur noch bei Ausritten. Den meisten rennt er aber immer noch unterm Hintern weg."

Ich hatte Triumph nicht sehr oft unterm Sattel gehabt, konnte mich aber gut dran erinnern, dass er sehr schwer zu halten war. Auch hatten die meisten Reitschüler Angst gehabt, ihn zu reiten, weil er so groß war. Stefan war gut mit Triumph zurechtgekommen. Sie waren ein tolles Team. Ach ja. Die guten alten Zeiten...

Sarah und ich schlenderten zum Hof zurück. Ein frischer Wind wehte, die Sonne lugte nur manchmal hinter den Wolken hervor. Als wir wieder vor dem Stallgebäude ankamen, fuhr ein silberner Audi SUV auf den Hof.

„Ach Mist! Ich hatte ja ganz vergessen, dass mein Bruder und seine Sippe sich angekündigt haben." Sarah verdrehte die Augen.

Mein Herz machte einen Hüpfer.

„Dein Bruder?", fragte ich ungläubig. An diese Gefahr hatte ich gar nicht mehr gedacht. Oder ich hatte diese Möglichkeit vielleicht auch erfolgreich verdrängt. Es war mir wohl nicht sehr wahrscheinlich vorgekommen, dass ich so schnell auf Tom treffen könnte, da er ja eigentlich in Münster wohnte. Aber es war Ostern. Da besuchte man seine liebe Schwester, auch wenn man sie nicht ausstehen konnte. 

Sarah marschierte mit großen Schritten auf den großen Wagen zu. Er war der Automarke also treu geblieben. Ich blieb, wo ich war und überlegte, wie ich unbemerkt verschwinden konnte. Doch es war schon zu spät.

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt