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Sofort erkannte ich Julias runde, ordentliche Handschrift. Stefan offensichtlich auch, denn er atmete heftig ein und hielt für einen Moment die Luft an, bevor er wieder normal weiteratmete. Nicole starrte wie gebannt durch ihre Brillengläser auf die geschriebenen Worte.

Der erste Eintrag war vom Heiligabend 1997:


24. Dezember 1997

Kathy hat mir dieses Buch geschenkt. Sehr passend, mein altes ist schon voll. Ausnahmsweise mal ein brauchbares Geschenk von ihr und nicht irgendein Mist wie sonst immer. ...


Das war so typisch Julia. Nicht einmal an Weihnachten hatte sie ein nettes Wort für ihre Mitmenschen übrig, sogar bei ihrer Schwester machte sie keine Ausnahme.

Es folgten ein paar Zeilen über die folgenden zwei Weihnachtstage, die ‚furchtbar langweilig und öde' waren.

Julia schien auch nicht jeden Tag in ihr Tagebuch geschrieben zu haben, aber doch regelmäßiger als Laura. Die Einträge waren, wie erwartet, gespickt mit Lästereien über alles und jeden und bissigen und gemeinen Kommentaren.

Im Frühjahr 1998 begann Julia detailreich zu beschreiben, wie sie gleichzeitig was mit Stefan und Max hatte und beide an der Nase herumführte. Ich schielte vorsichtig zu Stefan herüber, der die Zähne so fest zusammenbiss, dass es knirschte.

Das meiste Geschreibsel bestand aus narzisstischen Lobhudeleien auf sich selbst und Gehässigkeiten gegenüber anderen, sodass es reichte, das nur zu überfliegen. Ab und zu hielt Nicole inne, um sich den ein oder anderen Eintrag genauer durchzulesen. Es war abstoßend, aber irgendwie konnte man auch nicht aufhören zu lesen. Ich hatte das Gefühl, dass es immer schlimmer wurde, je näher wir Julias Todestag kamen.


***


19. Mai 1998

Stefan hat mich und Max beim Rumknutschen erwischt und mir gesagt, ich soll mich entscheiden. Da hab ich mich eben extra für Max entschieden. Wenn er mir schon so blöd kommt. Meint wohl, er könnte mir ein Ultimatum setzen. Aber nicht mit mir!

...

14. August 1998

Max macht hinter meinem Rücken mit 'ner anderen rum! Ich dulde ganz bestimmt nicht irgend so eine hässliche Nutte neben mir! Also hab ich wieder was mit Stefan angefangen. Er würde auch keine andere angucken, wenn man ihn mit einer Waffe dazu zwingen würde. Da können sich die ganzen Schlampen, die es auf ihn abgesehen haben, noch so ins Zeug legen. Ich brauche nur mit den Fingern zu schnippen, und er macht alles, was ich will.

...

12. September 1998

Ich glaube Laura, diese kleine, hinterlistige Fotze, steht auf Stefan und tratscht die ganze Zeit hinter meinem Rücken über mich. Tolle Freundin! Glaubt sie wirklich, ich würde das nicht merken? Wie dumm ist die denn! Sie soll bloß ihre Patschehändchen mit den dicken Wurstfingern nicht nach Dingen ausstrecken, die ihr nicht gehören! Außerdem ist sie eh zu fett und zu hässlich. Kein Typ würde sie auch nur mit dem Arsch ansehen.

...

27. September 1998

Was für ein tolles Gefühl es doch ist, wenn sich die Typen um dich kloppen! Davon können diese eifersüchtigen Ziegen alle nur träumen! Aber diese Aufmüpfigkeit muss ich Stefan unbedingt austreiben. Wenn er meint, mir vorschreiben zu können, was ich zu tun und zu lassen habe, hat er sich gewaltig geschnitten! Jetzt lasse ich ihn als Strafe eine ganze Weile lang so richtig leiden. Und Isabelle soll bloß aufhören zu meckern. Ohne mich wäre ihre blöde Geburtstagsfeier doch total zum schnarchen gewesen.

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt