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April 2009

Das Gefühl der Bedrohung, das Stefan verfolgte, seit er nach NRW aufgebrochen war, schien um das zehnfache anzuwachsen, je länger er sich in der Heimatstadt befand. Und es schien sich zu bewahrheiten, als sein Vater ihn am Morgen des Ostermontags in ernsthaftem Ton ansprach:

„Stefan, ich muss etwas mit dir besprechen."

Das klang schon so, als könnte es nichts Gutes bedeuten. 

Sie gingen ins Arbeitszimmer, weil Kristina in ohrenbetäubender Lautstärke in ihr Handy kreischte und man das Gespräch über einen gewissen Karsten, der bereits schon als „Arschloch" und „Wichser" betitelt worden war, im ganzen Haus hörte.

Dr. Feldmann machte kopfschüttelnd die Tür hinter sich zu. 

„Das kann sich ja kein Mensch anhören."

Er setzte sich auf seinen Bürostuhl, öffnete den Mund, um zu sprechen, hielt dann doch wieder inne und schien sich die Worte noch einmal genau zu überlegen. Dann wandte er sich endlich an Stefan, der an der Tür lehnte und die Arme unbewusst in einer abweisenden Geste vor der Brust verschränkt hatte:

„Ich überlege ernsthaft, noch jemanden in der Praxis einzustellen. Die Leute kommen wegen jedem kleinsten Schnupfen und allein kann ich sie alle nicht mehr behandeln. Sie einfach wegschicken kann ich aber auch nicht, weil es in dieser Stadt inzwischen nur noch ganze zwei Hausarztpraxen gibt. Und da dachte ich, bevor ich jemanden fremden in die Praxis hole, frage ich doch lieber zuerst dich. Die Approbation hast du schon seit einem halben Jahr und schließlich sollst du die Praxis sowieso einmal übernehmen..."

Offensichtlich wollte er noch etwas sagen, doch er hielt inne, weil Stefan ihn anschaute, als hätte er gerade vorgeschlagen, eine Bank auszurauben. 

Stefan konnte sich gar nicht daran erinnern, jemals den Wunsch geäußert zu haben, die Praxis zu übernehmen. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, überhaupt Medizin studieren zu wollen. Es war einfach so gekommen, weil es damals keine Alternative gegeben hatte. Es hatte damals überhaupt nichts gegeben.

„Das hatte ich eigentlich nicht vor", gab er zu.

„Und was hast du dann vor?"

Er schwieg. Gute Frage. 

„Na also. Außerdem ist es doch allemal angenehmer als in einer Großstadtklinik mit Schichtdienst und allem drum und dran", führte sein Vater seine Überzeugungsarbeit weiter fort.

„Ich muss noch den Facharzt machen", warf Stefan ein. Warum rechtfertigte er sich eigentlich? Was war an einem einfachen „nein" nicht zu verstehen? 

„Den kannst du auch hier machen. Ich habe eine Weiterbildungsbefugnis. Und in Münster gibt es die Uniklin..."

„Ich kann nicht hierher zurückkommen", fiel Stefan seinem Vater ins Wort.

„Und wieso nicht? Du bist doch jetzt hier." Es klang aufrichtig erstaunt.

„Du weißt ganz genau wieso."

Stefan brachte die Worte kaum heraus, weil es sich plötzlich so anfühlte, als hätte er einen Kloß im Hals.

Sein Vater nahm den Brieföffner in die Hand, legte ihn gleich wieder auf den Tisch.

„Das ist so lange her. Langsam sollte es gut sein, findest du nicht?", meinte er und sah Stefan eindringlich an. „Niemand denkt mehr an die Sache. Ich weiß gar nicht mehr, wann mich jemand das letzte Mal darauf angesprochen hat."

Stefan war sich ganz sicher, dass die boshaften, tratschsüchtigen Stadtbewohner die Sache ganz und gar nicht vergessen hatten. Und ein Teil von ihnen dachte bestimmt immer noch, dass er der Schuldige war. Aber das war nicht das eigentliche Problem. Das größte Problem war, das er selbst es auch glaubte, weil er sich immer noch nicht im Geringsten erinnern konnte, was in dieser Nacht passiert ist. Und das musste einen Grund haben. Man verdrängte schlimme Ereignisse, die einem widerfuhren, wie Unfälle, Kriegserlebnisse oder Ähnliches. Und man verdrängte es, wenn man selber etwas so Schreckliches getan hatte, dass der Verstand es nicht wahrhaben wollte. Diese nagende Ungewissheit war um einiges schlimmer, als sicher zu wissen, dass man einen anderen Menschen getötet hat.

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt