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ACHTUNG TRIGGERWARNUNG! In diesem Kapitel  wird Suizid thematisiert.


Die Nacht vom 21. auf den 22. Mai 1999,
am Silbersee

Schwankend lehnte Stefan sich an einen dicken Baumstamm. Sich auf den Beinen zu halten, fiel ihm immer schwerer. An den Bäumen und Büschen vorbei konnte er die Wasseroberfläche des Sees sehen, die im schwachen Mondlicht silbrig glänzte. Gedämpfte Geräusche von der Party, die ein Stück weiter weg ungestört weiterlief, drangen zu ihm und die Partybeleuchtung schimmerte zwischen den Ästen hindurch. 

Doch hier war die Dunkelheit, die sich einladend um ihn schloss und die Nacht hieß ihn in ihrem finsteren Reich willkommen.

Obwohl ihm kotzübel war, führte Stefan die Flasche, die er in der Hand hielt, an seinen Mund und trank mehrere Schlucke. Der bittere Schnapsgeschmack kam ihm aber auf einmal ekelerregend vor. Er spuckte alles, was er im Mund hatte wieder aus und beugte sich würgend vornüber, in dem verzweifelten Versuch, sich endlich zu übergeben. Vielleicht würde es danach ja besser werden. Doch die ersehnte Erleichterung blieb aus. Seine Augen brannten und begannen zu tränen und seine Nase lief wie bei einer Erkältung. Du hast es einfach nicht verdient, dass es dir besser geht, nicht nachdem, was du vorhin getan hast.

Frustriert schmetterte er die Flasche irgendwohin in die Dunkelheit. Klirrend zersprang sie an einem Baum und die Scherben fielen ins Gras. Erschöpft ließ Stefan sich auf den Boden sinken, direkt neben den Scherbenhaufen, ließ sich auf den Rücken fallen und starrte nach oben. Über ihm ragten die Bäume empor und ihre vom Mond beschienen Umrisse zeichneten sich am dunklen, nahezu wolkenlosen Nachthimmel ab. Sogar einige Sterne waren zu sehen. Doch er konnte diesem idyllischen Anblick nichts abgewinnen, ganz im Gegenteil, er widerte ihn regelrecht an. Er wandte sich davon ab, drehte sich zur Seite und presste seine Wange auf die kalte, feuchte Erde. Ihm war so schlecht, dass es sich anfühlte, als müsste er sterben. Vielleicht wäre es auch besser so.

Seine Gedanken wanderten wieder zu den Ereignissen von vorhin. Fast konnte er erneut das Brennen spüren, als seine Handfläche auf Julias Gesicht traf und er hasste sich selbst für das, was er getan hatte. Wie konnte es nur so weit kommen?

Er hatte ja geahnt, dass Julia bei weitem nicht dasselbe für ihn empfand, wie er für sie. Als sie ihm aber mitten ins Gesicht sagte, wie wenig sie wirklich von ihm hielt, war das, als hätte sie ihn über den Rand eines Abgrunds gestoßen, in dessen schwarze, alles verschluckende Tiefe.

Die schmerzliche Erkenntnis, dass es endgültig vorbei war traf ihn wie ein Messerstich. Eigentlich sollte Stefan wohl froh darüber sein, doch das war er nicht. Er konnte einfach nicht. Die grenzenlose Wut auf Julia war längst schon wieder verflogen und er würde es sich nie verzeihen können, sie geschlagen zu haben. Daran änderte auch Max' Gelaber nichts, obwohl er es damit natürlich geschafft hatte, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Gut, alle redeten darüber, dass Julia weiterhin untreu war und er wusste, dass es stimmte, aber es schmerzte trotzdem, so direkt damit konfrontiert zu werden. Die ganze Zeit hatte er sich eingeredet, dass Julia ihre ganzen Seitensprünge nicht wirklich etwas bedeuteten. Doch es schien genau das Gegenteil der Fall zu sein: Alles, was zwischen ihnen beiden war, schien nicht von Bedeutung für sie zu sein. 

Er dachte daran, wie sie noch vor wenigen Stunden in inniger Umarmung beieinander gelegen hatten, während die anderen draußen im Garten saßen und zweifellos über sie herzogen, doch das war ihnen in dem Moment völlig egal gewesen. Sie hatten sich so fest umschlungen, als würden sie einander nie mehr loslassen wollen, als würden sie für immer zusammengehören.

„Ich liebe dich, Julia. Ich kann nicht leben ohne dich", hatte er ihr zugeflüstert und sein Gesicht an ihr seidiges Haar geschmiegt.

„Ich weiß", war das einzige, was sie geantwortet hatte. Sie sagte nicht ‚ich auch'. Das hatte sie nie gesagt. Kein Wunder, sie tat es ja auch offensichtlich nicht. Er bedeutete ihr nicht das geringste, war einfach nichts für sie. Etwas, was man einfach wegpackt, wenn man es nicht mehr braucht. Das hatte sie doch gesagt und es auch tatsächlich so gemeint.

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt