„Was machen wir jetzt als nächstes?", fragte Nicole, zog ihre Beine hoch und setzte sich im Schneidersitz auf ihren Sessel, während Stefan und ich auf ihrer Wohnzimmercouch herumlümmelten.
Nicole hatte sich nach unserem ereignisreichen Wochenende einige Tage freigenommen. Ihre Wohnung war nun so etwas wie unsere Einsatzzentrale geworden, denn sie hatte natürlich nicht vor, sich an Plattenbergs Rat zu halten. Das Abenteuer am Samstag war ja nicht aufregend genug gewesen.
Mir war es glücklicherweise gelungen, unsere Aktion vor meiner Mutter geheim zu halten. Sonst hätte sie mir wahrscheinlich den Arsch versohlt, auch wenn ich schon längst erwachsen war.
Nicole musste ihren Bruder einweihen, weil er uns behilflich sein sollte, falls unser zwielichtiger Freund von der Kripo sich doch nicht an sein Versprechen hielt und wir Schwierigkeiten bekamen. Außerdem hatte die Polizei Michael auch zu der Sache befragt, aber er war den ganzen Samstag mit seiner Freundin unterwegs gewesen. Er war jedenfalls wenig begeistert und wollte sich auch nicht an unseren Amateurermittlungen beteiligen. Vermutlich sah er uns schon auf der Anklagebank in einem möglichen Strafprozess.
Vor ihren Eltern und ihrem Verlobten konnte Nicole die ganze Sache aber irgendwie verheimlichen. Stefan hatte da weniger Glück, da das Krankenhaus die nächsten Verwandten verständigt hatte und das nun mal seine Eltern waren. So hatten die alles erfahren und es musste einige unangenehme Gespräche gegeben haben, worüber sich Stefan jedoch ausschwieg, genauso wie er nicht viel von der Befragung durch die Kripo berichtete. Am Vortag war er aus dem Krankenhaus entlassen worden, sah immer noch leicht mitgenommen aus und sollte sich eigentlich zuhause weiter von der Gehirnerschütterung erholen. Vermutlich war unsere Mörderjagd nicht gerade das, was dazu förderlich war. Doch nachdem er nun dem vermeintlichen Mörder fast von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden und auch noch von diesem angegriffen worden war, war das alles noch mehr zur persönlichen Angelegenheit für ihn geworden als ohnehin schon.
„Ich hoffe doch, dass ihr nach allem, was passiert ist, nicht weiter Hobbydetektiv spielen wollt?", fragte ich. „Das wird langsam viel zu gefährlich. Lassen wir die Polizei einfach ihre Arbeit machen."
„Ach, die Bullen, die finden doch ihren eigenen Arsch nicht in der Hose! Sonst hätten die alles schon längst aufgeklärt", meinte Stefan verächtlich. Scheinbar hielt er nicht besonders viel von dem skurrilen Kripo-Pärchen.
„Die glauben also, dass Julias geheimnisvoller Lover der Mörder ist", fasste Nicole das Wenige zusammen, was Stefan uns erzählt hatte. „Und Laura wusste von ihm, hatte aber nicht in ihr Tagebuch geschrieben, wer das war. Soweit ich das sehen konnte, bevor dieses Arschloch von Kommissar das Tagebuch eingesackt hatte, war der letzte Eintrag an dem Tag, an dem wir unsere mündlichen Prüfungen im vierten Abifach hatten. Also etwa eine Woche vor Julias Tod."
„Der entscheidende Hinweis wird wohl in Julias Tagebuch stehen", mutmaßte ich und merkte, dass ich mich von Nicole schon wieder mitreißen ließ.
„Ich glaube ja immer noch, dass Katrin sich das mit diesem Tagebuch nur ausgedacht hat und es das gar nicht gibt", meinte Stefan und legte die Füße auf Nicoles Couchtisch, wobei der Berg an Zeitschriften und Werbeprospekten auf den Boden rutschte.
„Ich meine, Julia ist doch nicht so blöd gewesen, ihre ganzen...", er stockte kurz, „...Männergeschichten, die eigentlich geheim bleiben sollten, in ihrem Tagebuch niederzuschreiben."
„Na ja, Julia war genau die Art von Mensch, die so etwas aufschreibt, um sich dann immer wieder daran aufzugeilen, wie toll sie ist. Und garantiert stehen da noch viel gemeinere Sachen drin als bei Laura", erwiderte ich überzeugt. „Und außerdem, wonach suchte dann der andere Typ in dem Haus? Kann ja nur das Tagebuch gewesen sein."
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Die Nacht im Mai
Gizem / Gerilim1999: Die Abiturientin Julia Mayer verschwindet nach einer Party und wird wenig später tot aufgefunden. Ihr Freund gerät in Verdacht, sie getötet zu haben, doch auch weitere Personen aus Julias Freundeskreis waren nicht gut auf sie zu sprechen. Aufg...