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Nachdem ich feststellen musste, dass man wirklich nirgendwo vor unerwünschten Begegnungen sicher war, fügte ich mich in mein Schicksal und bereitete mich darauf vor, überall auf irgendetwas zu stoßen, was mich an die Vergangenheit erinnern würde. Doch was ich nicht bedacht hatte war, dass die Begegnungen nicht einfach nur passiv auf mich warten, sondern direkt zu mir kommen würden. Und zwar in der blonden, aufwendig gestylten Gestalt von Nicole Lindner. Die Frage, woher sie überhaupt wusste, dass ich wieder in der Stadt war, stellte sich mir nicht. Sie brauchte nur in regelmäßigem Kontakt mit jemandem von hier zu stehen, um es zu wissen. In dieser Stadt war es unmöglich, irgendetwas geheim zu halten. Naja, fast unmöglich. Ich musste aber zugeben, dass Nicole bei weitem nicht die Schlimmste war, die mir begegnen konnte. Eigentlich war sie ja doch immer ganz nett gewesen, wenn auch etwas hyperaktiv. Mir drängte sich der Verdacht auf, dass Nicole in mancherlei Hinsicht Isabelle gar nicht unähnlich war. Nicht umsonst war sie die einzige von uns gewesen, die enger mit ihr befreundet war.

Nicole hatte das Treffen um halb acht Uhr abends angesetzt. Immer noch konnte ich mir nicht erklären, wieso ich mich auf das Ganze einließ. Nicoles Wunsch, mit der Vergangenheit abzuschließen konnte ich schon verstehen. Vielleicht hatte ich diesen Wunsch ja auch, obwohl ich mir nicht sicher war, ob es uns je gelingen würde. Und natürlich war da auch ein weiterer Grund: Neugier. Gewisse Verhaltensweisen des typischen Kleinstadtbewohners konnte man eben nicht immer unterdrücken und auch nach mehreren Jahren in einer Großstadt nicht vollständig ablegen.

Meine Mutter hatte mir ihren Wagen geliehen. Ich war es nicht gewohnt, Auto zu fahren und brauchte länger bis zur Nachbarstadt als die normalen fünfzehn Minuten. Anscheinend hatte Nicole mit der Wahl des Treffpunktes verhindern wollen, auf das typische, tratschende Stammtischklientel zu treffen, das sich bei uns in der Stadt herumtrieb. Eben diese Leute hatten vor zehn Jahren die Gerüchteküche mächtig angeheizt und die ein oder andere abstruse Theorie verbreitet.

Ich folgte Nicoles Wegbeschreibung und kam ohne Komplikationen auf dem recht überschaubaren Parkplatz vor besagtem Lokal an. Es sah alles tatsächlich noch neu aus und passte nicht wirklich zu dem sonstigen Ambiente der Stadt, die unserer sehr ähnlich war.

Mit klopfendem Herzen betrat ich das Gebäude. Drinnen war es nicht besonders voll. Die Einheimischen bevorzugten eben doch ihre geliebten Stammtischkneipen. 

Michael und Nicole waren bereits da. Nicole winkte mir zu. Sie wirkte richtig aufgekratzt und als ich bei den beiden ankam, begrüßte sie mich überschwänglich und umarmte mich sogar. Sie war wie am Tag davor top gestylt in einer geblümten Seidenbluse und einer weißen Röhrenjeans. Heute trug sie außerdem eine Brille mit modischer, dunkler Fassung.

Michael begrüßte mich freundlich, aber zurückhaltender als seine Schwester. Er hatte sich nicht viel verändert. Klar sah er etwas älter aus, die hellblonden Haare waren ordentlich gekämmt und er trug ein hellblaues Hemd zu einer dunklen Jeans. Man sah den beiden an, dass aus ihnen etwas geworden war. Im Gegensatz zu mir.

„Tja, so sieht man sich wieder", stellte Michael fest und man konnte ihm anhören, wie wenig begeistert er von der Idee seiner Schwester war.

 „Ja, hätte ich nicht mit gerechnet", erwiderte ich. „Ist ja fast wie in alten Zeiten, was?"

Natürlich war absolut nichts wie in alten Zeiten und würde es auch nie mehr sein.

„Jetzt fehlt nur noch Stefan", sagte Nicole nervös.

„Vielleicht hat er's sich ja anders überlegt", meinte Michael schulterzuckend.

Aber das hatte Stefan nicht.

Manche Menschen hatten wirklich unverschämtes Glück mit den Genen, die für das Aussehen verantwortlich waren. Stefan gehörte zweifellos dazu. Die zehn Jahre hatten seinen immer schon perfekten Gesichtszügen nichts anhaben können, ganz im Gegenteil. Die hellbraunen Haare waren etwas kürzer als früher und lagen leicht zerzaust, der Bartschatten verriet, dass die letzte Rasur schon ein paar Tage zurücklag. Doch das schmälerte seine Attraktivität nicht im Geringsten, ebenso wenig wie der etwas abgespannte Blick. Die Frauen standen vermutlich immer noch Schlange, und so zynisch es auch klingen mag, sie sollten inzwischen weitaus bessere Chancen haben als zu Julias Lebzeiten.

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt