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Die Nachricht von Stefans Festnahme verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt, genauso wie die von seiner Freilassung am nächsten Tag.

„Haftrichter lässt Verdächtigen im Fall Julia M. laufen" , lautete die Schlagzeile in der Münsterländer Zeitung. Der Artikel besagte, dass es nicht genug Beweise für eine Verhaftung gab und die Polizei nun auch andere Spuren verfolgte.

Schon bald wussten auch alle, dass Julia schwanger gewesen ist, da die Polizei wenig diskret nach weiteren möglichen Kandidaten für die Vaterschaft fahndete. Das war wohl die in der Zeitung erwähnte, neue Spur. Es gab gar kein anderes Thema mehr, egal wohin man ging. Im Reitstall hörte ich die Mädchen tuscheln, wobei sie wenig Schmeichelhaftes über Julia zu sagen hatten. Fast hörte es sich so an, als wären sie froh, dass sie tot war. Am Anfang versuchten die lästernden Tussis noch irgendwelche Informationen aus mir, Nicole oder Laura herauszubekommen, doch wir schwiegen eisern zu dem Thema. Ich war sehr froh, dass Laura genug Anstand hatte, sich nicht an den Lästereien zu beteiligen, trotz dem in letzter Zeit angespannten Verhältnis zu Julia. Katrin blieb den Reitstunden von nun an fern, genauso wie Stefan.


Der Mai neigte sich dem Ende zu. Es war fast eine Woche seit Julias Tod vergangen.
Am Tag ihrer Beerdigung herrschte wunderbares Wetter. Die Sonne schien von einem fast makellosen, blauen Himmel und es war ungewöhnlich warm. Regen hätte besser zu diesem traurigen Anlass gepasst, doch die Natur weinte scheinbar nicht um Julia.

Die Reihen der Christuskirche füllten sich immer mehr. Unsere ganze Stufe war da, Julias ältere Schwester war aus Köln angereist, ebenso andere Verwandte und Freunde der Familie Mayer. Herr Mayer war schließlich der Leiter der hiesigen Sparkassenfiliale und kannte eine Menge Leute. Manche Stadtbewohner waren nur aus reiner Neugier gekommen, vielleicht auch, um noch das ein oder andere Gerücht aufzuschnappen.

Wir hatten uns in der letzten Reihe niedergelassen. Ich saß zwischen Nicole und Laura, daneben Michael, Katrin und Stefan. Der faltete die ganze Zeit die Hände zusammen und wieder auseinander und starrte darauf hinab, um den teils mitleidigen und teils unfreundlichen Blicken nicht zu begegnen, die sich auf ihn richteten. In der Reihe vor uns saßen Max und Robin mit einigen anderen.

„Wir sollten uns alle treffen und über alles reden", raunte Nicole uns zu. Max wandte sich um.

„Was gibt es denn bitte noch zu bereden?", flüsterte er zurück.

„Wir müssen doch herausfinden, was geschehen ist. Schließlich war Julia unsere Freundin!", zischte Nicole zurück.

„Als ob nicht sowieso klar ist, was geschehen ist", sagte Max mit vielsagender Miene.

„Nach der Beerdigung treffen wir uns bei uns zuhause", entschied Nicole. In dem Moment tauchte der Pfarrer auf und alle verstummten.

Der Pfarrer leierte seine übliche Rede herunter. Die anschließende, lange Prozession zur Grabstätte zog sich endlos dahin. Hier und da hörte man Schluchzen und Weinen.

Als Julias Grab in die zuvor ausgehobene Grube hinabgelassen und langsam zugeschüttet wurde, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Was vorher ziemlich surreal erschien, war nun endgültig: Julia war tot und würde nicht mehr wiederkommen. Nie mehr. Die Daten auf dem vorläufig aufgestellten Holzkreuz waren traurig anzusehen:

Julia Mayer
17.07.1980 – 22.05.1999


Langsam begann sich die Menge zu lichten. Etwas verloren standen wir abseits und warteten darauf, unauffällig den Friedhof verlassen zu können. Den Leichenschmaus wollten wir auslassen und sofort zu den Lindners nach Hause fahren. Als wir durch das Friedhofstor auf die Straße traten, bedachte uns Jürgen Mayer mit einem eisigen Blick. Schnell verzogen wir uns Richtung Bushaltestelle, bevor es noch zu Schwierigkeiten kommen konnte.

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt