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Freitagnacht, 21. Mai 1999,
am Silbersee


„Oh Gott, ich glaube dieser komische Eierlikör war echt zu viel", stöhnte Katrin lallend und ließ sich ins Gras fallen. Es schien ihr egal zu sein, dass Grashalme, feuchte Erde und kleine Äste in ihren dunkelroten Locken hängenbleiben würden. Ihr schien inzwischen alles egal zu sein, denn sie war so besoffen, dass sie kaum mehr laufen konnte. So wie die meisten, die hier am Seeufer herumwuselten, die frischgebackene Bildungselite unserer Stadt.

„Hier, iss was. Vielleicht geht's dir dann besser." Robin hielt ihr eine offene Chipstüte hin. Er sprach auch bereits ziemlich langsam, war aber noch erstaunlich klar.

„Wenn ich jetzt was esse, muss ich erst recht kotzen", erwiderte Katrin, schloss die Augen und streckte sich auf dem Boden. Ihre viel zu große Hose war so weit heruntergerutscht, dass die eher nicht für fremde Blicke bestimmte, gepunktete Unterhose herauslugte. Robin starrte recht ungeniert auf den Streifen nackter Haut zwischen dem unteren Rand ihres Oberteils und dem Hosenbund. Nur gut, dass sie es nicht bemerkte.

Seit wir am See angekommen waren, mussten bereits mehrere Stunden vergangen sein. Die Sonne war längst schon untergegangen, wie spät es nun genau war, konnte ich nicht sagen, denn ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Ich stellte die Bacardi-Flasche, an die ich mich schon gefühlt seit Stunden klammerte, ins Gras. Auf keinen Fall wollte ich so enden wie Katrin. Wummernde Technomusik klang in ohrenbetäubender Lautstärke durch die nächtliche Landschaft, konnte aber das Gegröle und Gelächter nicht vollständig übertönen. Sogar einen Bühnenscheinwerfer hatte man angeschleppt, der wahrscheinlich aus dem Theaterraum der Schule ‚ausgeliehen' worden war. Er tauchte das Seeufer in unnatürliches, milchig-blaues Licht, zusätzlich zum silbernen Schein des zunehmenden Mondes am Himmel.

Neben mir saß Laura und starrte mit stumpfem Blick vor sich hin. Seit dem Intermezzo mit Julia im Flur, hatte sie fast gar nicht mehr gesprochen. Es wunderte mich, dass sie überhaupt mit uns mitgekommen war. Immer, wenn sie sie erblickte, sah sie Julia hasserfüllt an und ihr Alkoholkonsum war für ihre Verhältnisse besorgniserregend hoch.

„Heeey, lass das!", quietschte Nicole kichernd. Sie saß mit dem Rücken an Max gelehnt zwischen seinen Knien und er hatte ihr eine Hand unters Oberteil geschoben. Eine interessante Entwicklung. Scheinbar hatte Max seine Annäherungsversuche an Julia endgültig aufgegeben und sich stattdessen Nicole zugewandt. Im nüchternen Zustand würde sie es zwar nie zugeben, doch im Grunde war sie ihm nicht ganz abgeneigt. Und so besoffen, wie sie inzwischen war, ließ sie sich bereitwillig von ihm begrapschen. Michael war schon vor einiger Zeit mit Isabelle abgerauscht. Zugegebenermaßen passten die beiden nicht schlecht zusammen.

Stefan setzte sich neben mich ins Gras. Dafür, dass er vor wenigen Stunden das ganze Glas mit dem selbstgebrannten Gebräu weg geext hatte und es dabei natürlich nicht geblieben war, hielt er sich noch erstaunlich gut auf den Beinen. Doch das würde nicht mehr lange so bleiben. Etwas fehlte, und mir wurde klar, dass es Julia war.

„Hey, Romeo, wo hast du denn deine Julia gelassen?", fragte Katrin, die sich wieder halb aufgerichtet hatte.

Mit grimmiger Miene griff Stefan, ohne mich zu fragen, nach meiner Flasche und leerte sie in wenigen Zügen.

„Hat jemand von euch Julia gesehen?", nuschelte er, als würde ihm überhaupt jetzt erst auffallen, dass sie nicht da war.

„Oooooh! Hast du deine Angebetete etwa verloren? Wie konnte das nur passieren?", grölte Katrin voller Hohn.

„Pass bloß auf, dass sie sich inzwischen keinen Ersatz sucht", stimmte Max ein und schob Nicole etwas von sich weg. Ihm war es anscheinend gerade wichtiger, Stefan auf die Nerven zu gehen, als sie zu betatschen.

Die Nacht im MaiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt