#22 - interpretation

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song für's chapter: BODYACHE - PURITY RING
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Am nächsten Morgen wachte ich verwundert in meinem Bett auf. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich gestern Abend beim Fernsehen im Wohnzimmer eingeschlafen war. Aber wie war ich dann hier hin gekommen?

Schnell schlug ich meine Bettdecke zur Seite und schwang meine Beine aus dem Bett. Doch Aaron war sowohl in der Küche als auch im Wohnzimmer nicht anzutreffen. Also schlief der kleine Faulpelz wohl noch. Schulterzuckend verließ ich das Zimmer und entschied, erst mal duschen zu gehen.

Als ich nach einer halben Stunde die Küche erneut betrat, saß Aaron am Tisch. Er wirkte ziemlich fertig, was aber nicht wirklich überraschend war. Ich hatte gestern auf ihn warten wollen, um ihn über sein Date auszuquetschen, aber er war einfach nicht nach Hause gekommen. Aber das konnte man ja jetzt nachholen.

"Wie war dein Date?", fragte ich fröhlich - wobei ich das Wort "Date" besonders betonte - und umarmte ihn von hinten.

"Oh gott, nicht so laut", meinte Aaron und fuhr sich mit seiner Hand übers Gesicht.

"So schlimm?", fragte ich frustriert und ließ mich auf dem Stuhl gegenüber von ihm nieder, um seine Reaktion besser zu sehen.

"Nein, es war wunderschön", erzählte Aaron und hatte schon wieder dieses nicht endende verliebte Grinsen im Gesicht, "wir haben es nur leider etwas mit dem Bier übertrieben."

"Na, wenn's sonst nichts weiter ist", grinste ich. Schnell schmierte ich mir ein Brot mit Nutella, während ich Aarons Beschreibung des Dates zuhörte. So wie er es erzählte klang es echt süß. Und als ob dieses Mädchen ein Engel oder er über beide Ohren in sie verknallt war. Wahrscheinlicher war aber beides zusammen.

"Du, wann bist du eigentlich gestern nach Hause gekommen?"

"Keine Ahnung, aber du hast auf dem Sofa geschlafen und ich hab dich dann ins Bett getragen", meinte er und fügte dann mit einem Schulterzucken hinzu: "Hättest dir sonst bestimmt den Nacken verzerrt."

"Awe, voll süß von dir!" Ich stand schnell auf und umarmte ihn noch einmal. "Bester Bruder der Welt."

"Bah, geh mal lieber schnell, bevor ich gleich kotzen muss", lachte er, woraufhin ich tatsächlich schnell die Küche verließ.

***

"Entschuldigt meine Verspätung, tut mir leid. Aber der Kopierer wird auch nicht jünger", Herr von der Laden betrat zum ersten Mal nach Anfang einer Stunde den Klassenraum und ließ sich am Pult nieder. Schnell tippte ich noch meine Nachricht an Maite zu Ende, mit der ich mich heute Abend im Kino verabreden wollte.

"Kann ja mal vorkommen, kein Ding", kam von irgendwem aus der Klasse.

"Genau, kann ja mal vorkommen", lächelte Herr von der Laden. Kam mir das nur so vor oder landeten seine Augen dabei wirklich auf mir? Er wollte mich doch verarschen, immer zog er mich mit meiner Unpünktlichkeit auf.

"So, wie versprochen beginnen wir heute mit unserem neuen Thema. Lyrik. Ich hoffe, das sagt jedem von ihnen etwas", begann er seinen Unterricht und schaute durch die Klasse.

Ich für meinen Teil freute mich ehrlich gesagt auf dieses Thema, denn ich mochte Gedichte und auch das Interpretieren fiel mir leicht. Doch ein Großteil meiner Klasse schien da anders eingestellt zu sein, denn von allen Seite war Empörung zu vernehmen.

"Das Thema ist gar nicht so langweilig wie es klingt, glaubt mir", versuchte Herr von der Laden sie umzustimmen. Dann holte er aus seinem Ordner mehrere Blätter heraus und gab sie dem Jungen neben mir zum Verteilen, da er in der ersten Reihe am nächsten zum Pult saß.

"Bitte versuchen sie einmal dieses Gedicht von Rainer Maria Rilke zu interpretieren. Und bevor sie fragen, ja sie können das gerne in Partnerarbeit erledigen", sagte Herr von der Laden mit einem Schmunzeln. Bei dem Dichter hellte sich meine Stimmung augenblicklich auf, denn Rilke war meiner Meinung nach einer der besten deutschen Dichter aller Zeiten.

Ich gab die Kopie weiter und warf dann einen Blick auf das Gedicht:

Liebeslied

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt?
Wie soll ich sie hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

"Wollen wir zusammen arbeiten?", fragte der Junge - letzte Stunde hatte ich herausgefunden, dass sein Name Moritz war - neben mir.

"Gerne", lächelte ich ihm zu und las mir das Gedicht ein weiteres Mal durch.

"Okay, also es geht auf jeden Fall um zwei Liebende. Oder zumindest um zwei Personen, die in einem engen Verhältnis stehen", fing ich an. Als ich aufschaute, stellte ich fest, dass sich Herr von der Laden seinen Stuhl geholt und sich vor unseren Tisch gesetzt hatte. Er nickte mir zustimmend zu und in seinem Mundwinkel spielte ein leichtes Lächeln.

"Ja, genau", stimmte mir Moritz zu, "und es wirkt so, als ob der Erzähler-"

"Das lyrische Ich", unterbrach Herr von der Laden.

"Als ob das lyrische Ich", fuhr Moritz fort, "sich von der anderen Person entfernen und loslösen möchte. Ihre Seelen sollen sich nicht mehr berühren."

"Ich glaube eher, dass das lyrische Ich sich sehr hingezogen zu der anderen Person fühlt und dass seine Seele die Seele der anderen Person nicht in Ruhe lassen kann", entgegnete ich ihm und schaute dann geradewegs auf in Herr von der Ladens Augen. Unser Blick hielt für mehrere Sekunden, bis Moritz uns unterbrach.

"Gut möglich, aber dann verstehe ich den letzten Teil nicht."

Gerade als ich antworten wollte, übernahm Herr von der Laden dies, wobei er mehr mit mir als mit Moritz sprach: "Die beiden ergeben zusammen eins, sie können nicht ohne einander. Sie haben gleiche Interessen und sind dadurch auf ewig im Herzen verbunden. Außerdem sieht das lyrische Ich die Liebe als vom Schicksal vorgegeben an. Zuletzt stellt es fest, dass alle Gefühle, die es fühlt, zum Leben gehören und natürlich und wunderschön sind."

Mein Atem stockte bei seinen Worten und ich konnte nichts anderes tun, als seinen intensiven Blick zu erwidern. Wie konnte ein Mann solch schöne Worte aus seinem Mund zaubern? Ich hatte das Gefühl, dass er nicht nur zu, sondern auch über mich sprach. Aber das war nur eine Einbildung - vielleicht ein Wunschdenken?

Dann räusperte Herr von der Laden sich und schenkte meinem Partner zum ersten Mal etwas Beachtung. "Bei ihnen sieht das ja soweit ziemlich gut aus, ich schau dann mal bei den anderen. Es wäre schön, wenn sie schon mal einen Blick auf die rhetorischen Mittel werfen könnten", meinte er und verließ unseren Tisch.

Immer noch etwas atemlos und ziemlich verwirrt versuchte ich mich auf das Gedicht und dessen rhetorische Mittel zu konzentrieren. Aber nach Herr von der Ladens Worten fiel mir das sehr schwer. Warum suchte er auch so ein Gedicht aus und interpretierte es dann gemeinsam mit uns? Und warum machte ihn das gerade einfach so unglaublich attraktiv?

teach me. | dnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt