Ich kam aus einer Kleinstadt, weit im Osten. Wir wohnten in einem ärmeren Viertel, doch das störte mich nicht. Mein Vater ging jeden Tag zur Arbeit, meine Mutter ebenfalls, beide schwer beschäftigt in der gleichen Firma, die ihre Mitarbeiter zu strengem Schweigen verpflichtete. Ich wusste nicht genau, was sie taten, wusste allerdings, dass sie ihren Beruf im Labor gern und mit Leidenschaft ausübten. Ich selbst arbeitete nicht, aber hatte es in nächster Zeit vor. Meine Prüfungen waren vorbei und ich suchte einen Job. Ich hatte mir vorgenommen, mich in der nächstgrößeren Stadt nach einem Bürojob umzusehen, blätterte dafür in Zeitungen und trieb mich auf diversen Internetforen herum. Ich wusste nicht genau, wie viele Bewerbungen ich geschrieben hatte, allerdings fand ich diesen Morgen eine Zusage für ein Bewerbungsgespräch eines guten Unternehmens, bei welchem ich mich in der Buchhaltung beworben hatte. Das freute mich.
„Liebe Frau Gsötter", las ich vor, während der Bildschirm vor meinen Augen blinkte, „wir laden sie herzlich auf ein Bewerbungsgespräch ein." Mein Herz tat einen Satz. Endlich. Wie lange hatte ich auf diese Gelegenheit gewartet! Weiter unten stand ein Datum. Ich hatte zwei Tage Zeit, um mir passende Jeans und eine Bluse zu besorgen. Ich mochte keine Blusen und die Hemden meines Vaters waren mir definitiv zu groß. Ich wollte mir nichts von Mama borgen und außerdem war ich der Meinung, dass es endlich an der Zeit war mich von meinen Eltern abzukapseln. Sobald ich den Job bekam, würde ich mir eine Wohnung suchen und gehen. Ich wusste zwar nicht, wie es mir in der Stadt gehen würde, aber ich würde es schon überleben. Sie hatten Parks und Bäume und die paar Blumen auf den Verkehrsinseln mussten reichen, wenn ich Natur schnuppern wollte.
Ich schaltete den Laptop aus, warf einen Blick aus dem Fenster und entschied mich nach unten zu gehen. Die Dielen knarzten unter meinen Schritten, als ich am Bad vorbeischritt und meinen Vater hörte, der sich den Bart rasierte. „Schatz", rief er mir zu, als er mich aus dem Augenwinkel bemerkte, „hast du meine Krawatte gesehen? Ich schwöre, sie war gestern noch da." Ich blieb kurz stehen, zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts gesehen." „Verdammt", sagte er nur. Er hatte sich geschnitten. Ich überlegte kurz, ob ich es ihm gleich erzählen oder erst auf den Nachmittag warten sollte. Jeden Morgen hatte er seinen Kopf ganz woanders.
„Ich habe eine Zusage für ein Bewerbungsgespräch."
„Ach?", abgelenkt zupfte er die Barthaare von seinem Oberkörper, „wirklich?" Zerstreut tupfte er dann seine Wange mit Desinfektionsmittel ab. „Das ist toll." Er sprach wie ein Roboter.
Ich unterdrückte ein Seufzen und ging die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Meine Mutter stand bereits in der Küche und schob gerade Toast in den Toaster.
„Guten Morgen, Hildegard."
Hildegard. Ich mochte meinen Namen nicht und bevorzugte deshalb Hilde oder einfach nur H. Ein ,Hey du' genügte auch. Mein Vater respektierte meinen Wunsch und Mama, nun, die nannte mich meistens so, wie es in der Geburtsurkunde stand.
Wie jeden Morgen hatte Mama ihr dunkelbraunes Haar hochgesteckt und zu einem Dutt zusammengebunden. Sie warf mir einen Blick über die Schulter zu und lächelte. Sie war eine sehr schöne Frau, fand ich. „Würdest du bitte in den Garten gehen? Ich brauche frischen Schnittlauch. Dein Papa wollte einen Aufstrich zum Frühstück."
„Guten Morgen", erwiderte ich ihren Gruß und nickte, „klar." Eigentlich hatte ich ihr von meinem Bewerbungsgespräch berichten wollen, doch sie strahlte, genauso wie mein Vater, leichten Stress aus, also behielt ich es für mich.
Draußen herrschten bereits eisige Temperaturen und das, obwohl es erst Mitte Herbst war. Ich ging durch den Hinterausgang nach draußen und warf mir beim Vorbeigehen eine Jacke über.
Unser Garten war riesig. Mama liebte ihn und ihre Obstbäume, die reichlich Frucht trugen. Am Vortag hatte ich ihr bei der Ernte geholfen und Rosenkohl geerntet. Mir taten noch immer die Finger weh und ich hatte, trotz Bürste, nicht allen Dreck unter meinen Fingern hervorkratzen können. Die musste ich unbedingt vor Mittwoch sauber kriegen, wenn ich einen guten Eindruck hinterlassen wollte.
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Die Wiese der toten Tiere
FantasyNiemand träumt. Es ist ein Märchen, ein Mythos, Hexerei. Und wenn es doch passiert, wird es von einem Forschungsinstitut in Grein erforscht. Man kann sich dort anmelden und an einem Programm teilnehmen, liest Hildegard im Internet und schreibt eine...