Kapitel 3: Schwachpunkte

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Am selben Abend – und damit wie gerufen und zur rechten Zeit – klopfte Vinda an meine Tür, um mir einen großen Stapel Bücher zu bringen, den sie für mich besorgt hatte. Vorsichtig lud sie die dicken Wälzer auf meinem Schreibtisch ab, bevor sie höflich nickte und wieder verschwand. Das Abendessen ließ ich heute ausfallen, stattdessen kümmerte ich mich darum, meinen Plan weiter auszuarbeiten.

Schon in meiner Jugend hatte ich viel gelesen, um mich weiterzubilden. Damals hatte mein Interesse allerdings hauptsächlich schwarzer Magie und den Heiligtümern des Todes gegolten, nun ging es mir um etwas ganz anderes. In den letzten Jahren hatte ich mir fundiertes Wissen zur menschlichen Psychologie angeeignet, ohne welches ich heute nicht dazu in der Lage wäre, andere überzeugend und in dem Maße, auf meine Seite zu ziehen. Die Lektüren waren die Grundlage dafür gewesen und meine zahlreichen Versuchsobjekte die Garantie dafür, dass ich genug Übung darin hatte, bis ich meine Fähigkeiten bis zur Perfektion ausgebaut hatte. Doch Kinder waren speziell, ihre Gehirne befanden sich noch in der Entwicklung und die Herangehensweise, ihr Vertrauen zu gewinnen, war beinahe eine gänzlich andere als bei Erwachsenen. Anfänglich hatte ich gedacht, es würde mir ein Leichtes sein, dumme naive Wesen zu überzeugen, doch der Prozess, den Kinder durchliefen, war durchaus komplexer als angenommen.

Bis tief in die Nacht hinein beschäftigte ich mich mit den Büchern und weiteren Schriftstücken, die mir die nötige Theorie näherbrachten. Der Praxisteil würde folgen, sobald ich bereit war. Prickelnde Vorfreude stieg bei dem Gedanken in mir auf, ich musste mich jedoch noch etwas gedulden.

Am nächsten Morgen merkte ich, wie stark sich alle Mühe gaben, mich normal zu behandeln und keinen Anschein davon erwecken zu lassen, dass sie sich daran erinnerten, dass ich gestern laut geworden war. Ich dachte natürlich nicht im Traum daran, mich zu entschuldigen oder ähnliches – im Gegenteil. In der letzten Nacht hatte ich mir meine Worte genau zurechtgelegt. Meine Leute sollten Antworten auf die Fragen bekommen, die sie sich in ihren kleinen Köpfen stellten. Das würde ich dafür nutzen, um ihre Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, woran sie viel mehr Interesse hegten als an meiner Gefühlswelt: dem weiteren Vorgehen. Sie würden ihre Bedenken schnell vergessen haben, wenn ich das Feuer in ihnen neu entfachte.

„Meine Brüder und Schwestern", begann ich zu sprechen, als ich mich von meinem Platz am Ende des Tisches erhob. „Es ist Zeit, über die Zukunft zu sprechen." Effektvoll ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen, über die Gesichter, die gespannt und mit offener Vorfreude zu mir aufsahen. Ein leichtes Lächeln zierte meine Lippen als ich weitersprach: „Abzuwarten ist keine Lösung, das wissen wir alle. Und wenn die Menschen da draußen die Augen verschließen möchten vor den Lügen, denen die Regierung ihnen auftischt, dann können wir dagegen vorerst nichts unternehmen. Noch dazu sind sie kein ernster Schwachpunkt von Dumbledore und seinem Gefolge, aber wir alle wissen, welcher einer sein könnte. Er hat eine Vorliebe für die jüngeren Vertreter unserer Spezies. Und ich denke, das sollten wir zu unserem Vorteil nutzen."

„Woran genau habt Ihr gedacht?", wollte Vinda wissen. Ein wissendes Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie war nicht dumm – zumindest im Vergleich zu den durchschnittlich Begabten. Nach ihrem Auftrag, die Bücher zu besorgen, nach denen ich verlangt hatte, konnte sie sich sicher denken, worauf ich hinauswollte.

„Nun... Wir wollen so viele wie möglich von der Richtigkeit unserer Werte überzeugen", begann ich zu erklären und benutzte wie immer bewusst die Wörter wir und unseren, obwohl es überhaupt nicht der Wahrheit entsprach, wenn ich daran dachte, wie wenig diese Pfeifen dazu bereit waren, selbstständig mitzuarbeiten. Aber ich konnte nicht auf sie verzichten. Ohne ein paar Handlanger, war das einfach nicht zu schaffen, das musste ich mir eingestehen.

„Junge Menschen sind viel leichter von einer Sache zu begeistern und zu überzeugen. Wenn wir damit anfangen, den jungen Hexen und Zauberern zu zeigen, dass es sich lohnt, das Wohl abzuwägen und danach zu handeln, haben wir eine Chance, Dumbledore mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und uns den Weg frei zu machen, endlich aufzuräumen auf dieser Welt. Aus dieser Richtung wird er nicht damit rechnen und das ist unser Vorteil. Um diesen nicht zu verlieren, sollten wir keine Zeit verschwenden." Eine gespannte Stille legte sich über den Raum. Alle warfen sich vorsichtig gierige und aufgeregte Blicke zu. Es faszinierte mich erneut, wie hohl manche Menschen zu sein vermochten. Mit ein paar wenigen Worten hatte ich sie davon überzeugt, sich für eine Sache einzusetzen, von der sie nicht einmal in vollem Umfang wussten, welche es war. Vielleicht lag das aber auch mehr an meinem Charme als an der Dummheit der anderen.

Phönixasche (Grindeldore)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt