Kapitel 42: Abschied

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Am Anfang hatte ich mich gegen Albus' Vorschlag, sich selbst zu opfern, um alle anderen zu retten, gewehrt. Ich hatte versucht, ihm das auszureden, aber mir war recht schnell klargeworden, dass die Mühe verschwendet sein würde.

„Für das größere Wohl", hatte Albus geflüstert, während er mich eindringlich angesehen hatte.

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich dafür verantwortlich war, dass Albus sich nun für das größere Wohl opferte. Ich war nicht für ihn da gewesen, als er mich am meisten gebraucht hatte, war stattdessen damit beschäftigt gewesen, meine Macht weiter auszubauen, Gefolgsleute um mich zu scharen. Ich hatte den Tod seiner Schwester verschuldet, hatte Aurelius beinahe umgebracht und ihn schließlich nicht retten können. Aberforth war die einzige Familie, die Albus noch gehabt hatte, doch nach alldem hatte er sich von Albus abgewandt, ihn allein stehengelassen, zumindest nach außen hin. Aber ich wusste – wir wussten – dass Aberforth innerlich auf Albus' Seite stand und für ihn geben würde, was er konnte.

Was am meisten wehtat, war, dass ich für viele Jahre vergessen hatte, was im Leben wirklich wichtig war. Ich hatte meine Zeit mit Nichtigkeiten verschwendet, anstatt sie zu nutzen und mit Albus zu verbringen. Ich wusste: hätte ich anders gehandelt, wäre alles anders ausgegangen. Vor meinem inneren Auge sah ich meinen Vater wie er mir zulächelte. Es war erstaunlich, dass ich mich auch nach all den Jahren noch an ihn erinnerte, so detailliert als würde er vor mir stehen. Die letzten Wochen vor seinem Tod waren die intensivsten und schönsten gewesen; als er sich Zeit genommen hatte, mir all das beizubringen und zu erklären, was er mir hinterließ. Viel zu oft hatte er gesagt, er wäre stolz auf mich und viel zu selten habe ich ihm gesagt, wie lieb ich ihn hatte. Auch meiner Mutter, die es am Ende vielleicht nicht verdient gehabt hatte, hätte ich gern einmal öfter gesagt, was sie mir bedeutete; und Bathilda, ohne deren Hilfe ich vermutlich eingegangen wäre.

Albus hatte es schließlich geschafft, mich auf den Boden zurückzuholen, er hatte mich von mir selbst befreit und das nach all den Jahren, in denen ich ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte. Die Reue darüber fraß mich allmählich auf, zehrte an mir und mit jedem Tag wurde mein Wille, weiter durchzuhalten, schwächer.

War es schon zu spät? War Albus schon tot? Diese Fragen plagten mich Tag und Nacht, raubten mir den Atem und den Schlaf. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich all das hätte verhindern können. Die Verantwortung für all das Unheil, das in den letzten Jahrzehnten über unsere Welt hereingebrochen war, lastete auf meinen Schultern und drückte mich buchstäblich zu Boden. Ausgelaugt lag ich da, auf dem Gestein, die Kälte, die sich in meinem Körper ausbreitete, lähmte mich beinahe so sehr wie die Angst, die ich verspürte, die jederzeit allgegenwärtig war und mir vor Augen führte, was ich geopfert und verloren hatte und was ich bald verlieren würde.

Mitten in der Nacht erwachte ich aus einem Dämmerschlaf als ich ein leises Flüstern wahrnahm, das bis in mein Bewusstsein hervordrang.

„Gellert!" Da war es wieder, dieses eindringliche Zischen. Ich hob mühevoll meinen Kopf, öffnete meine Augen und sah in die von Albus. Bei dem Versuch, mich aufzurichten, knickte ich jedoch ein. Albus legte einen Arm um mich und gab mir Halt. Unablässig starrte ich in das fesselnde Blau seiner Augen, das auch nach all den Jahren nichts von seinem Bann verloren hatte, in den es mich zog. Er war noch der Mensch, in den ich mich damals verliebt hatte, vor beinahe hundert Jahren.

Kalte Luft wehte hinein in die Zelle, der Wind ließ Wolken am Himmel vorbeiziehen und legte die Sicht auf den Mond frei, der auf mich wirkte wie der einzige Lichtpunkt, den es überhaupt noch gab. Albus Augen spiegelten diesen Lichtpunkt, erinnerten mich daran, dass ich nicht allein war.

„Was machst du hier", krächzte ich kraftlos und sah Albus dabei besorgt an. „Ist es geschafft?"

Enttäuschung machte sich im Gesicht meines Gegenübers breit, was für mich Antwort genug war. Er schüttelte schließlich den Kopf. „Nein, Gellert. Ich komme, um mich zu verabschieden."

Phönixasche (Grindeldore)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt